Tod den Unsterblichen
war ein fernes Gefühl; eine Jugendsünde, schlimm, gewiß, aber sie lag schon so lange zurück. Inzwischen fühlte er sich behaglich und geborgen. »Bitte trink noch etwas Kaffee«, sagte Locille, und er gehorchte ihr gern. All die Stimulanzien der letzten vierundzwanzig Stunden wirkten gleichzeitig auf ihn, die Prügel, die Anstrengung, der Druck der Unsterblichen. Der Alkohol. Er erhaschte einen Blick von Locilles Gesichtsausdruck und merkte, daß er vor sich hin gesummt hatte.
»Verzeihung«, sagte er und hielt ihr die Tasse hin, damit sie ihm noch etwas Kaffee einschenke.
Um den Texas herum wurden die Wogen höher. Die schwarzen Kähne tanzten wie Holzspäne.
Locilles Eltern trotzten dem windgepeitschten Regen, um Zeuge zu sein, wie der Sarg ihres Sohnes auf das schwarze Deck des Bestattungskahns hinabgelassen wurde. Sie waren nicht allein – Dutzende von Trauernden standen neben ihnen, Fremde –, und es war nicht still. Senngg sirrten die vibrierenden Stahlkabel. Tschipfi, tschipfi pumpten die Pumpen in den Beinen des Turms die von den Wellen eingefangene und zusammengepreßte Luft durch Ventile in die Drucktanks der Generatoren. Die Musik ging in dem Lärm fast unter.
Es war Sitte, bei Bestattungen feierliche Musik von Tonbändern abzuspielen, die zu diesem Zweck in der Bibliothek aufbewahrt wurden. Die Hinterbliebenen hatten das Recht, das Programm auszusuchen – Kirchenlieder für die Religiösen, Bachchoräle für die Bewunderer der Klassiker, Largos für die gewöhnlichen Trauernden. Heute gab es keine Auswahl. Die Lautsprecher spielten ununterbrochen ein willkürliches Potpourrie von Grabgesängen. Es gab zu viele Trauernde, die zusahen, wie ihre Kinder, Eltern oder Frauen an Flaschenzügen hinunter auf die schwankenden Kähne schaukelten, um in der Tiefsee bestattet zu werden.
Sechs, sieben … Locilles Vater zählte sorgfältig acht vor dem Texas verankerte Kähne, die darauf warteten, beladen zu werden. Jeder Kahn hatte Platz für ein Dutzend Leichen. Es war eine schlimme Krankheit, dachte er objektiv und stellte fest, daß sich nur so wenige Trauernde eingefunden hatten, weil – häufig genug – ganze Familien gemeinsam auf die Kähne geladen wurden. Er rieb sich den Nacken, der zu schmerzen begonnen hatte. Die Mutter an seiner Seite dachte oder zählte nicht, sie weinte nur.
Als Cornut nüchtern wurde, sah er allmählich seine Welt und seinen gestrigen Tag unter einem strengeren, schärferen Gesichtswinkel. Rhame half ihm dabei. Der Polizist besaß die Papierschnitzel, die Cornut zurückgelassen hatte, und verhörte ihn unerbittlich: » Warum mußten Sie sterben? Wer sind die Unsterblichen? Wie brachten sie Sie zu Ihren Selbstmordversuchen – und warum haben Sie sich vorhin nicht umgebracht, als Sie die beste Gelegenheit auf der Welt hatten?«
Cornut versuchte es zu erklären. »Sterben«, sagte er und erinnerte sich an die Lektion, die ihm buchstäblich eingedroschen worden war, »ist nichts; wir sterben alle. In gewisser Hinsicht ist es ein Sieg, denn es läßt den Tod zu unseren Bedingungen eintreten. St. Cyr und die andern freilich …«
»St. Cyr ist verschwunden«, sagte der Polizist schroff. »Wußten Sie das? Er ist verschwunden, und auch sein Leibwächter. Master Finloe von der Biochemie ist verschwunden, und seine Sekretärin sagt, er sei mit Jillson und dieser alten Blondine fortgegangen. Wohin?«
Cornut runzelte die Stirn. Es entsprach nicht seiner Vorstellung von der Unsterblichkeit, daß sie angesichts einer Seuche fliehen sollten. Sollten Übermenschen nicht heroisch sein? Er versuchte das zu erklären, aber Rhame fuhr ihn an: »Supermörder, meinen Sie! Wohin sind sie gegangen?«
Cornut sagte entschuldigend: »Ich weiß es nicht. Aber ich kann Ihnen versichern, daß sie Gründe hatten.«
Rhame nickte. Seine Stimme war jetzt leiser: »Ja, das hatten sie. Möchten Sie wissen, welche Gründe? Die Ureinwohner schleppten diese Krankheit ein. Sie kamen mit akuten Pocken von ihrer Insel hierher, fast jeder von ihnen, haben Sie das gewußt? Die schlimmsten akuten Fälle wurden hergebracht, die Gesunden wurden auf der Insel zurückgelassen. Haben Sie das gewußt? Sie bekamen Spritzen – um sie zu heilen, wie sie glaubten, aber die Ärzte sagten, daß es nur kosmetische Kuren waren, die Krankheit blieb ansteckend. Und sie wurden in jede wichtige Stadt der Welt geflogen, trafen Tausende von Menschen, aßen mit ihnen, kamen mit ihnen in enge Berührung. Ihnen wurde
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