Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
frostbeschlagenen Scheiben sah Iwan nur die Bogenlampen der Gleisanlage und dahinter nichts
als die Dunkelheit Russlands.
Iwan und seine Mutter setzten sich ebenfalls an den Tisch. Iwans Vater öffnete seine Aktentasche und zeigte ihnen, was man
ihm gegeben hatte: einen von Süd nach Nord verlaufenden Reiseplan für die Besuche bei den britischen Landmaschinenhändlern,
ein Aeroflot-Flugticket zum Flughafen von Heathrow und einen Gutschein für einen Mietwagen. Iwan hatte gar nicht gewusst,
dass es all das überhaupt gab.
Sein Vater sollte am nächsten Morgen aufbrechen. Die Reise würde zehn Tage dauern.
Es war ganz still in der Küche, man hörte nur das Zischen des Ofens, das Wasser in den Rohren und das Rattern eines Zuges,
der in der Dunkelheit aus dem Werk abfuhr. Iwan sah seine Mutter an und entdeckte Tränen in ihren Augen.
»Ich weiß ja nicht einmal, wo das ist« , sagte sie.
Sein Vater nahm ein Blatt Papier und skizzierte den Umriss von Großbritannien. Iwan fand das Gebilde komisch, es sah aus wie
ein Männchen ohne Beine und mit einem riesigen Kopf. Sein Vater malte für jede seiner Stationen einen Punkt, damit sie seine
Reise Tag für Tag verfolgen konnten. In den Niva-Wohnungen gab es kein Telefon.
Iwan folgte seinen Eltern in ihr Schlafzimmer und sah zu, wie seine Mutter einen Pappkoffer vom Schrank nahm und packte. Er
musste sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Koffer stemmen, damit sie ihn zumachen konnte.
Sal Moresby stand auf ihrem Balkon und beobachtete ein hell erleuchtetes Partyschiff, das seine lachenden Passagiere den Fluss
hinabtrug. Sie dachte daran, dass es kaum zehn Meilen weiter nördlich in den Fens Orte wie Thinbeach gab, Orte, die still
und bescheiden wirkten – so als wären sie wirklich die kleinen Inseln, als die Alain de Minching sie beschrieben hatte.
Dann stiegen die anderen Bilder vor ihrem inneren Auge auf: Tevershams am Stamm der Weide zerschmetterter Schädel, Jake Skerrits
seltsame Zeichnungen in Fen Lodge und das Wandbild mit Billy Breakman im Wasser. Wie Fletcher die Bleistiftskizzen von Olga
mit seinen blauen Augen betrachtet hatte. Dann der Anblick derselben jungen Frau als Leiche.
Schließlich die Kassette in Olgas Zimmer. Sal hatte nicht viel damit anfangen können, und auch Fletcher hatte ziemlich verwirrt
gewirkt, als er sie für die Vormittagsbesprechung mit ihrer Vorgesetzten in einen Umschlag steckte.
Sal dachte an den kommenden Tag. Inzwischen war sie ziemlich gespannt, was Tony Olland ihr am nächsten Morgen erzählen würde.
Diese Fragen gingen ihr nicht aus dem Sinn, und so stand sie auf dem Balkon und sah zu, wie auf dem Fluss wieder Ruhe einkehrte.
Sie hatte keine Lust, schlafen zu gehen, ja, sie hatte nicht einmal Lust, die Bettdecke zurückzuschlagen und ins Bett zu schlüpfen.
Es gibt Orte, von denen man nicht lassen kann, Straßen, durch die man immer wieder gehen muss. Als Tom Fletcher die Tür des
Hauses in der Electric Mile öffnete, flog eine Motte auf und flatterte taumelnd hinauf zu den Eisenbahnlampen.
Im Erdgeschoss brannte Licht, doch es war niemand zu sehen. Die Möbel standen ordentlich da und der Holzboden war sauber geschrubbt.
Hinten war die unbeleuchtete Küche, in der Geschirr in einem Abtropfgitter stand, und von dort aus ging eine mit einem dünnen
Vorhang verhängte Tür auf einen kleinen, betonierten Hof. Fletcher blieb einen Moment lang in der Küche stehen und verfolgte
die Lichter eines vorbeifahrenden Zuges durch das dünne Gewebe. Dann zog er den Vorhang beiseite und trat ins Freie.
Sie saß im Schneidersitz auf einer Matte, die auf dem Betonausgebreitet war, den Rücken aufrecht gegen die Backsteinmauer gelehnt. Sie trug Sandalen, Baumwollhosen, ein altes Jeanshemd
und Armreife an den Handgelenken. Sie sah auf und lächelte ihn an, als er sich neben sie setzte. Sie berührten einander nicht.
Er schloss die Augen. Er spürte die elektrische Ladung in der Luft und roch die Züge und den Rosmarin im Blumentopf neben
ihm. Er wandte sich ihr zu und sah sie an.
»Hallo, Cathleen.«
Sie war Anfang dreißig, wie er. Arme und Beine waren lang und schlank und ihr Gesicht schimmerte im schwachen Licht. Das Haar
war kurz geschnitten, aber er erinnerte sich gut, dass es bei ihrer ersten Begegnung ein wilder brauner Lockenschopf gewesen
war. Ihre grauen Augen erwiderten seinen Blick.
»Woran denkst du, Tom?«
»An die Zeit, als dein Haar länger war.«
»Woran denkst
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