Tod einer Strohpuppe: Kriminalroman
du wirklich?«
»Ich habe heute zwei Leichen gesehen und gestern eine. Ein Mann hat mich beim Arm gefasst und gesagt:
Er war mein einziger Sohn.
Das ist mir an die Nieren gegangen.«
Sie blickte zum Himmel auf. Die dichten Wolken, die sich über Thinbeach gesammelt hatten, trieben nach Süden weiter, zerstreuten
sich und warfen das orangegelbe Licht der Stadt zurück. Die Oberleitungen summten und ein Einsatzwagen fuhr mit heulender
Sirene über die Brücke. Das Blaulicht spiegelte sich in den Fenstern des Obergeschosses.
»Wie geht es dem Jungen?«, fragte er.
Cathleen runzelte die Stirn. »Mir ist heute auch was an die Nieren gegangen. Er hat mich etwas gefragt, was er mich zuletzt
als kleines Kind gefragt hat.«
»Was denn?«
»Er hat mich gefragt, wer sein Vater ist.«
Früh in der Morgendämmerung fiel dichter Schnee und verhüllte die rauchenden Schlote des Niva-Werks und sogar die Lichter
der Gleisanlage. Iwan ging, den Pappkoffer in der Hand, neben seinem Vater die Treppe hinunter. Der Koffer war schwer, aber
er trug ihn trotzdem. In den Nachbarwohnungen öffnete sich die eine oder andere Tür, und die Leute sahen ihnen nach. Das gefiel
Iwan. Es gefiel ihm so sehr wie der Kuss, den er dem Pioniermädchen gegeben hatte, oder die Berührung, mit der ihre beste
Freundin ihn unter Wasser gestreift hatte.
Sie traten aus dem Treppenhaus ins Freie, und der Schnee fiel über sie her. Die Flocken drangen in Iwans Augen und Mund ein,
sie schmeckten wie Rauch.
Irgendwo im Schnee tauchte etwas Großes, Schwarzes auf und rollte auf sie zu. Als es näher kam, war es riesig. Es war eine
Sil-Limousine, die die Werksleitung dem leitenden Ingenieur für die Fahrt zum Flughafen zur Verfügung gestellt hatte. Der
Fahrer stieg aus und öffnete den Kofferraum. Iwan schaffte es, den Koffer hochzuhieven, und sie legten ihn in den Kofferraum
und klappten den Deckel zu.
Iwans Vater drehte sich einmal auf dem Rücksitz um und lächelte Iwan zu, dann fuhr der Wagen los und der Vater blickte wieder
nach vorn. Nach wenigen Sekunden war der Wagen vollkommen vom Schnee verschluckt. Iwan sah ihm nach, bis seine Augen so voller
Schnee waren, dass er nichts mehr sehen konnte.
Mittwochmorgen
Es war früh am Morgen, doch die Sonne hatte schon genug Kraft, den Nebel über dem Cam aufzulösen. Unter seinen Füßen spürte
Tom Fletcher den Weg, auf dem er den Uferstreifen der Backs entlangjoggte, er sah die Fassaden der Trinity Hall und des Clare
College in der Sonne leuchten, er hörte das Geräusch seiner Schritte, seine Atemzüge in der frischen Morgenluft und das Muhen
der Rinder auf den Weiden. All das nahm er wahr, aber in Gedanken war er woanders. Nicht bei der Electric Mile – denn diesen
Teil seines Lebens hatte er tief in sich verschlossen –, sondern draußen in den Fens. Er versuchte, die Ereignisse in eine geordnete Abfolge zu bringen.
Angefangen hatte alles, als Iwan Olga mit Hilfe einer Heiratsagentur bei Crispin untergebracht hatte. Hatte sie Crispin Schaden
zufügen sollen? Offensichtlich nicht. Sie war dort, um etwas herauszufinden, was für Iwan von entscheidender Bedeutung war.
Iwan hatte jedoch nicht vorhersehen können, dass Crispin einen Untermieter hatte und dass Olga und Jake sich anfreunden würden.
Mit ihren glitzernd lackierten Nägeln hatte sie sich in Jakes Rücken gekrallt und ihm erzählt, warum sie hier war. Und in
Jakes bekifftem Hirn hatte etwas Klick gemacht. Er ging mit seinem Wissen zu Ron Teversham, und Ron kam auf dumme Gedanken,
bewaffnete sich mit einem Kassettenrecorder und machte eine verrückte Aufnahme, aus der Fletcher selbst jetzt noch nicht recht
schlau wurde. Jake malte ein riesiges Gemälde an seine Wand und interessierte sich plötzlich für die Dorfgeschichte und Billy
Breakman. Billy hatte sich seinerseits nach Portugal verzogen,kaum dass Olga auf der Bildfläche erschienen war. Dann ging Jake in der Bond Street shoppen und kam einem Schredder zu nahe.
Fletcher blieb auf der King’s Bridge stehen. Aus der King’s College Chapel hörte er die durch die Entfernung verzerrten Klänge
einer Orgel. Mit ihrem honiggelben Maßwerk erhob sich die Kapelle aus einem vollendet gepflegten Rasen, und das mit Pinakeln
reich verzierte Dach zeichnete sich vor einem vollendet blauen Himmel ab. So kannte man die Kirche von Postkarten und aus
Reiseführern: Es war die Schokoladenseite von Cambridge. Doch Fletcher wusste, dass die Stadt
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