Tod einer Verrückten
dreißig gegeben«, sagte Mannucci, »damit die Sache glaubhafter klingt. «
»Ist das Krankenblatt noch da? «
»Natürlich. Es ist … Sie glauben doch nicht etwa, er könnte … «
»Wenn er nicht zurückgekommen ist«, meinte der Maresciallo, »dann vielleicht, weil er Ihr Mißtrauen bemerkt hat, aber wohl eher, weil er bekommen hat, was er wollte. «
»Nein!« Mannucci stand auf und ging an einen Aktenschrank .
»Nein, ich bin ganz sicher, daß ich den Schub zugemacht habe, als er gegangen ist, und daß die Unterlagen an ihrem Platz waren – ja. Da sind sie. «
»Darf ich einen Blick hineinwerfen? «
»Tja … «
»Vielleicht sollte ich Ihnen jetzt doch sagen – aber bitte behalten Sie es für sich –, daß diese Frau sich nicht selbst das Leben genommen hat, sondern umgebracht wurde. Und der Mann, mit dem Sie gestern gesprochen haben, könnte der Mörder sein. «
»Wenn das so ist …« Mannucci setzte sich mit der Akte an den Schreibtisch und schlug sie auf. Diese Eröffnung schien ihn weder zu beunruhigen noch zu überraschen. Nachdem er so viele Jahre hier gearbeitet hatte, konnte ihn wohl nichts mehr erschüttern .
»Wenn Sie erst Ihren Vorgesetzten fragen wollen …«, begann der Maresciallo .
»Hier gibt es niemanden, den man fragen könnte, Maresciallo. Diese Anstalt verwaltet sich selbst, so gut es geht. Sie wissen doch sicher, daß sie offiziell geschlossen ist? «
»Aber jemand muß sich doch um alles kümmern. Gibt es nicht wenigstens eine Art Verwalter? «
»Sicher gibt es einen Verwalter. Er führt Buch darüber, wie viele Scheiben Fleisch wir konsumieren und was wir für die Wäscherei ausgeben. «
»Verstehe. Dann vielleicht einen leitenden Arzt? «
»Ärzte haben wir auch keine. Jedenfalls keine, die fest im Haus sind. Es gibt ein paar Ärzte, die jede Woche mehrere Stunden Dienst bei uns tun. Wir haben ein paar eigene Krankenschwestern und einige Nonnen, die wenigen, die noch übrig sind – früher hatten sie ein Haus hier, aber seit die Anstalt geschlossen wurde, ist nur noch eine Handvoll bei uns. Früher gab es hier fast dreitausend Patienten, Maresciallo, viele davon chronisch psychisch krank und unzählige, um die sich sonst keine Menschenseele gekümmert hätte, und dann kommt irgend so eine Intelligenzbestie voll toller neuer Ideen daher und macht ein Gesetz zur Schließung der Anstalten. Damit ist die Angelegenheit auf dem Papier erledigt. Sobald diese Einrichtungen nicht mehr existieren, kann man viel leichter so tun, als würden die Leute dann auch nicht mehr existieren! «
»Dreitausend – und wo sind die alle hin? «
»Angeblich nach Hause zu ihren liebevollen Familien, die sie mit offenen Armen aufgenommen haben. In Wirklichkeit haben wir für einige wenige, sehr wenige, ein Zuhause gefunden. Die meisten wurden von ihren Familien in privaten oder kirchlichen Einrichtungen untergebracht, und die Leute, die wußten, wie man es anstellen muß, haben es geschafft, daß der Staat die Kosten übernimmt. Kurzzeitpatienten, die früher nur einmal zu uns gekommen sind oder nur in Phasen, in denen es nötig war, gehen jetzt in die psychiatrischen Abteilungen normaler Krankenhäuser – und selbst die dürfte es nach dem neuen Gesetz offiziell gar nicht geben. Die Psychiatriepatienten sollen mit physisch Kranken zusammengelegt werden, aber können Sie mir sagen, wie das funktionieren soll? Die Patienten, die Sie jetzt hier sehen, sind chronisch psychisch krank und haben niemanden, der sie zu sich nehmen oder anderswo unterbringen würde. Sie werden bis an ihr Lebensende hierbleiben, ohne Direktor, ohne hauseigenen Arzt oder Psychiater und obwohl kaum Geld da ist, um den Betrieb halbwegs aufrechtzuerhalten, weil es nämlich keine Wählerstimmen bringt, wenn man Geld in eine Anstalt steckt, von der alle gern glauben möchten, daß sie nicht mehr existiert. So wursteln wir uns hier durch, Maresciallo, und falls Sie wissen wollen, wie das in der Realität aussieht, gebe ich Ihnen ein Beispiel: Letzte Woche war ein visitierender Arzt so freundlich, über Nacht dazubleiben, weil wir für eine Station keine Nachtschwester hatten. Vielleicht bekommen Sie jetzt einen Eindruck davon, wie es hier zugeht. «
»Verstehe«, sagte der Maresciallo. »Ich hätte mir nie vorstellen können … «
»Nein. Das kann sich niemand vorstellen, und Sie dürfen überzeugt sein, daß das auch niemand will. Tut mir leid. Ich sollte nicht so vom Leder ziehen, aber wenn Sie wüßten, wie es ist,
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