Tod eines Fremden
»Dalgarno war dort, und ihre Gefühle füreinander waren nicht zu übersehen.«
Sie sahen beide zu Hester hinüber, und diese nickte.
Runcorn stieß ein entrüstetes Räuspern aus, das ohne viele Worte seine Wut und seine Verachtung ausdrückte.
»Wo war er letzte Nacht«, fragte Monk, der wusste, dass Runcorn das herausgefunden hatte.
Runcorn verzog das Gesicht plötzlich zu einem Lächeln. »Allein in seiner Wohnung«, sagte er mit tiefer Befriedigung. »So behauptet er zumindest. Aber er kann es nicht beweisen. Der Diener hatte frei, kein Pförtner, keine Besucher.«
»Also hätte er in die Cuthbert Street gehen können?« Monk war überrascht über die Mischung aus Gefühlen, die in ihm wach wurden. Hätte Dalgarno Rechenschaft über seine Zeit ablegen können, hätte das bedeutet, dass er nicht schuldig sein konnte – zumindest hätte er Katrina dann nicht eigenhändig umbringen können. Das hätte die Frage neu aufgeworfen. Monk kannte niemanden sonst, der einen Grund haben könnte, Katrina etwas anzutun. Aber es bereitete ihm auch mehr Unbehagen, als er sich hätte vorstellen können, denn er dachte daran, wie sie dem Mann entgegengetreten war, den sie so tief geliebt hatte, und in seinen Augen gesehen hatte, dass er sie umbringen wollte. Hatte sie es gleich gewusst? Oder hatte sie im Zimmer oder auf dem Balkon gewartet und bis zum letzten Augenblick nicht glauben können, dass er es tun würde, hatte dann seine starken Hände gespürt und gemerkt, wie sie rückwärts taumelte und stürzte?
»Monk!« Runcorns Stimme unterbrach ihn in seinen Gedanken.
»Ja …«, knurrte er. »Was hat er noch gesagt? Wie hat er reagiert?«
»Auf ihren Tod?« Runcorns Abscheu war offensichtlich. »Mit vorgetäuschter Überraschung – und Gleichgültigkeit. Er ist das kälteste Schwein, mit dem ich je zu tun hatte. Von seinem Betragen hätte man schließen können, die ganze Angelegenheit sei eine Tragödie, die ihn kaum berührt, eine Sache, die er anstandshalber bedauert, die ihn aber in Wahrheit völlig gleichgültig lässt. Er hat ein Auge darauf geworfen, Partner bei Baltimore und Söhne zu werden, und das ist alles, was ihn interessiert. Ich kriege ihn, Monk, ich schwöre es!«
»Wir müssen ihm ein Motiv nachweisen«, sagte Monk und konzentrierte seine Gedanken auf das Thema. Wut, Empörung und Mitleid waren verständlich, aber damit erreichte er im Augenblick nichts.
»Gier«, sagte Runcorn einfach, als sei das eine Wort Verdammnis genug. Er griff nach seiner Tasse und trank, da er sich nicht verbrennen wollte, behutsam einen Schluck.
»Das beweist nicht, dass er sie umgebracht hat«, erwiderte Monk mit mühsam beherrschter Geduld. »Viele Menschen sind gierig. Er wäre nicht der erste Mann, der um einer reichen Erbin willen einer nicht so wohlhabenden Frau gegenüber sein Versprechen bricht, sobald er sicher ist, dass er bei Ersterer eine Chance hat. Es ist zwar abscheulich, aber noch kein Verbrechen.«
»Er hat kein Alibi.« Runcorn stellte seine Tasse ab und zählte die Punkte an den Fingern auf. »Er hätte in der Cuthbert Street sein können. Er ähnelt von der Gestalt her dem Mann, den der Zeuge auf dem Dach gesehen hat. Es war zwar nur ein flüchtiger Eindruck, aber mit Sicherheit war er elegant, dunkel, ein wenig größer als sie. Wobei sie für eine Frau ziemlich groß war.« Runcorn streckte einen zweiten Finger aus. »Er brauchte nur sein Gewicht und seine Körperkraft, um sie umzubringen. Und dann ist da noch dieser Knopf, den wir in ihrer Hand gefunden haben. Wir werden alle seine Kleider untersuchen.«
Monk spürte, wie ihn ein Frösteln durchlief und ihm dann am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Er betete darum, dass Runcorn es nicht merkte. Die Jacke mit dem fehlenden Knopf war in seinem Kleiderschrank im Schlafzimmer. Gott sei Dank hatte er sie nicht mit dem Papier zusammen in den Herd gestopft. Er hatte darüber nachgedacht!
»Hoffe, er hat das Kleidungsstück nicht beseitigt«, fuhr Runcorn fort. »Aber selbst wenn, irgendjemand wird wissen, dass er einen Umhang oder Mantel besaß, und wie will er dessen Verschwinden dann erklären?«
Monk sagte nichts. Sein Mund war trocken. Wo konnte er einen Knopf auftreiben, um den fehlenden zu ersetzen? Wenn er zu einem Schneider ging, fand Runcorn es womöglich heraus.
Runcorn hielt einen dritten Finger hoch. »Und ihre Beschuldigung, er sei in einen Betrug verwickelt; wir wissen, dass sie Sie beauftragt hat, es zu beweisen!«
Monk fuhr
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