Tod eines Fremden
Baltimore.« Sie atmete tief durch. »Ich habe gehört, dieses Haus« – sie vermied es geflissentlich, sich umzusehen – »sei ein Zufluchtsort für verletzte … Straßenmädchen? Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich irre. Ich wollte Sie nicht beleidigen, aber mein Dienstmädchen hat mir versichert, dies sei das richtige Haus.« Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, und ihr Körper war steif vor Anspannung.
»Es ist keine Beleidigung, Miss Baltimore«, erwiderte Hester ruhig. »Ich tue dies, weil ich es tun möchte. Die Medizin kümmert sich um die Bedürftigen, sie fällt keine sozialen Urteile.« Sie war unsicher, ob sie etwas über Nolan Baltimores Tod sagen sollte oder nicht, und zögerte, doch ihr Instinkt siegte. »Mein Beileid, Miss Baltimore. Bitte kommen Sie herein.«
»Vielen Dank.« Sie schaute sich noch einmal um, dann schloss sie die Tür. »Vielleicht können Sie mir helfen …«
»Wenn ich etwas darüber wüsste, hätte ich es bereits der Polizei gesagt«, erwiderte Hester, drehte sich um und ging zum Tisch zurück. Sie wusste, was Livia Baltimore hier suchte. Es war nur natürlich und zeigte großen Mut, wenn auch wenig Klugheit. Sie hatte Mitleid mit der jungen Frau, die schmerzlich würde erkennen müssen, welche Orte ihr Vater, zu welchem Zweck auch immer, aufgesucht hatte. Wäre sie zu Hause geblieben, hätte sie ihre Gefühle, ihre Träume, ihren Kummer sehr viel sicherer bewahren können. Aber vielleicht wollte sie nicht nur Informationen sammeln, sondern konnte auch welche geben. Selbst wenn das Leben ihres Vaters ihr größtenteils fremd gewesen war, konnte sie doch etwas über seine Persönlichkeit sagen.
»Bitte, setzen Sie sich«, bat Hester sie. »Möchten Sie einen Tee? Es ist ein scheußlicher Abend.«
Livia nahm dankend an. Offensichtlich hatte sie das Dienstmädchen fortgeschickt, damit es in der Kutsche auf sie warten konnte, wenn sie denn in einer Kutsche gekommen war. Entweder wollte Livia dieses Gespräch unter vier Augen führen, oder aber das Dienstmädchen hatte sich geweigert, an einem solchen Ort zu bleiben. Womöglich auch beides.
Schwer atmend füllte Bessie den Kessel aus einem Wasserkrug auf dem Boden wieder auf und stellte ihn auf den Ofen. »Dauert aber ein paar Minuten«, murrte sie. Sie spürte die Herablassung der jungen Frau und nahm sie ihr übel.
»In Ordnung«, meinte Hester, dann wandte sie sich Livia zu. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was Mr. Baltimore zugestoßen ist«, sagte sie vorsichtig. »Ich kümmere mich hier nur um Verletzungen und Krankheiten. Ich stelle keine Fragen.«
»Aber Sie müssen doch etwas gehört haben!«, drängte Livia. »Mir erzählt die Polizei ja nichts. Meinem Bruder haben sie gesagt, es beträfe eine Frau, die womöglich verletzt wurde.«
Ihre schwarz behandschuhten Hände, die auf ihrem Ridikül lagen, ballten sich ein ums andere Mal zu Fäusten. »Vielleicht hat er gesehen, dass eine Frau angegriffen wurde, und hat versucht, ihr zu helfen, und dann sind sie über ihn hergefallen?« In ihrem Blick brannte die Verzweiflung. »Wenn dem so war, wäre sie doch sicher hierher gekommen?«
»Ja«, stimmte Hester ihr zu, da sie wusste, dass sie zwar Recht hatte, aber dennoch ganz falsch lag.
»Dann hätten Sie sie doch gesehen, oder Ihre Mitarbeiterin?« Livia nickte halb in Bessies Richtung, die mit verschränkten Armen neben dem Ofen stand.
»Ich hätte sie gesehen«, räumte Hester ein. »Aber hierher kommen jede Nacht mehrere Frauen, alle sind verletzt … oder krank.«
»Aber in dieser Nacht … in der Nacht, in der er … umgebracht wurde?« Livia beugte sich ein wenig über den Tisch, in ihrem Eifer vergaß sie ihren Widerwillen. »Wer war hier? Wer war verletzt und hat den … Mörder vielleicht gesehen?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Wollen Sie keine Gerechtigkeit, Mrs. Monk? Mein Vater war ein guter, anständiger Mann. Und großzügig. Er hat sehr hart gearbeitet für das, was er besaß, und er liebte seine Familie! Kümmert es Sie gar nicht, dass jemand ihn getötet hat?«
»Doch, natürlich macht es mir etwas aus«, antwortete Hester und überlegte, wie sie der Frau, die fast noch ein Kind war, antworten sollte, ohne sie mit Tatsachen zu konfrontieren, die sie weder begreifen noch glauben konnte. »Kein Mord lässt einen unberührt.«
»Dann helfen Sie uns!«, flehte Livia. »Sie kennen diese Frauen. Erzählen Sie mir etwas!«
»Nein, ich kenne sie
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