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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nicht«, widersprach ihr Hester. »Ich kümmere mich, so gut ich kann, um ihre Verletzungen … das ist alles.«
    Livia machte große Augen. »Aber …«
    »Durch diese Tür da kommen sie herein.« Hester nickte zur Haustür. »Manchmal habe ich sie schon einmal gesehen, manchmal auch nicht. Entweder haben sie Schnittverletzungen, blaue Flecken oder Knochenbrüche oder leiden unter schweren Infektionen, meist Syphilis oder Tuberkulose oder aber etwas anderem. Ich frage sie nur nach ihrem Vornamen, um sie irgendwie ansprechen zu können. Ich tue, was ich kann, und das ist oft nicht viel. Wenn es ihnen einigermaßen gut geht, verlassen sie uns wieder.«
    »Aber wissen Sie denn nicht, wo sie sich ihre Wunden zugezogen haben?«, hakte Livia mit schriller Stimme nach. »Sie müssen doch wissen, was passiert ist!«
    Hester blickte auf die Tischplatte. »Ich muss nicht fragen. Entweder ist ein Kunde wütend geworden, oder sie haben ein bisschen Geld für sich behalten, und der Zuhälter hat sie geschlagen«, antwortete sie. »Und ab und zu geraten sie in Streit, weil sich eine auf fremdem Terrain etwas verdient hat. Die Konkurrenz ist hart, warum auch immer – aber für das, was ich hier tue, spielt es keine Rolle.«
    Livia begriff das offensichtlich nicht. Es war eine Welt, auch eine Sprache, die jenseits ihrer Erfahrung und ihrer Vorstellungskraft lag. »Was ist ein – Zuhälter?«
    »Der Mann, der sich um die Frauen kümmert«, erklärte Hester. »Und den größten Teil von dem kassiert, was sie verdienen.«
    »Aber warum?« Livias Augen drückten blankes Unverständnis aus.
    »Weil es gefährlich ist für eine Frau, die auf sich gestellt ist«, erklärte Hester. »Die meisten haben keine andere Wahl. Die Zuhälter besitzen die Häuser, in gewisser Weise besitzen sie auch die Straßen. Sie halten andere davon ab, den Frauen was zu tun, aber wenn sie glauben, sie wären faul oder würden sie betrügen, dann schlagen sie die Frauen, normalerweise aber nur so viel, dass sie keine Narben im Gesicht haben und noch fit sind zum Arbeiten. Nur ein Narr zerstört, was er besitzt.«
    Livia schüttelte den Kopf, als müsste sie den Gedanken loswerden. »Und wer hat sie dann verletzt, wenn sie zu Ihnen kommen?«
    »Ein Freier vielleicht, der betrunken ist und nicht merkt, wie stark er ist, oder der einfach die Kontrolle verloren hat«, sagte Hester. »Manchmal auch andere Frauen. Oft kommen sie mit Infektionen.«
    »Tuberkulose bekommen viele«, sagte Livia. »Menschen aller Art. Ich hatte eine Cousine, die daran gestorben ist. Sie war erst achtundzwanzig. Man nennt das den weißen Tod, nicht wahr.« Es war eine Feststellung. »Und das andere ist …« Sie würde es nicht aussprechen. Ihre Verlegenheit bei diesem Thema war zu tief, um wirklich offen zu sein. Schließlich brachte sie es über sich, sich in dem Raum mit den weiß getünchten Wänden und den Schränken, von denen einige verschlossen waren, umzusehen.
    Hester bemerkte es. »Karbol, Lauge, Pottasche, Essig«, sagte sie. »Zum Saubermachen. Und Tabak. Den halten wir unter Verschluss.«
    Livia machte große Augen. »Tabak? Sie lassen die Leute rauchen? Sogar Frauen?«
    »Zum Abbrennen«, erklärte Hester. »Tabak ist ein gutes Ausräucherungsmittel, besonders wenn wir es mit Läusen oder Zecken oder Ähnlichem zu tun haben.«
    Livia verzog das Gesicht, als könnte sie den Gestank bereits riechen. »Ich möchte nur wissen, was Sie gesehen haben«, bat sie. »Was ist meinem Vater zugestoßen?«
    Hester musterte die Jugend in den weichen Linien ihrer Wangen und ihres Halses, die faltenlose Haut, den ernsten Blick. Doch schon hatte der Schatten des Kummers sie berührt; um ihre Augen lagen dunkle Ränder, die Haut war wie Papier, ihr Mund verkniffen. Die Welt war anders als noch vor ein paar Tagen, ihre Unschuld war für immer verloren.
    Hester suchte nach Worten, die das Mädchen – denn mehr war sie, trotz ihrer Jahre, nicht – von ihrem Vorhaben abbringen und sie zurück in ihr Leben schicken würden, damit sie glauben konnte, was sie glauben wollte. Wenn es keinen Prozess gab, würde sie nie erfahren müssen, was ihr Vater in der Leather Lane gemacht hatte. »Lassen Sie das die Polizei herausfinden, falls es ihr gelingt«, sagte sie laut.
    »Die findet nichts!«, antwortete Livia ungehalten. »Mit der reden diese Frauen nicht! Warum auch? Sie kennen den Mörder. Sie trauen sich bloß nicht, ihn zu verraten.«
    »Wie war Ihr Vater denn so?«, fragte Hester und bereute

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