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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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es im selben Augenblick. Es war eine dumme Frage. Was sagte eine Frau über ihren toten Vater? Dass er so war, wie sie ihn haben wollte, die Wirklichkeit verzerrt durch Verlust, Loyalität und ein Gefühl für Schicklichkeit, das einem verbietet, etwas Schlechtes über einen Toten zu sagen. »Ich meine, warum sollte er in der Nacht in die Leather Lane gekommen sein«, fügte sie hinzu.
    Aus Verlegenheit ging Livia in die Defensive. »Ich weiß nicht. Es muss wegen etwas Geschäftlichem gewesen sein.«
    »Und was sagt Ihre Mutter?«
    »Wir reden nicht darüber«, antwortete Livia, als wäre es das Natürlichste der Welt. »Mama ist leidend. Wir versuchen, alles Unangenehme oder Erschütternde von ihr fern zu halten. Jarvis, mein Bruder, sagt, er habe sich sicher mit jemandem getroffen, vielleicht hätte es etwas mit den Streckenarbeiten zu tun oder so. Mein Vater besaß eine Eisenbahngesellschaft. Sie haben ein neues Gleis gebaut, das fast fertig ist. Es führt von den Docks hier in London bis hinauf nach Derby. Und wir haben auch eine Fabrik in der Nähe von Liverpool, wo Eisenbahnwaggons gebaut werden. Vielleicht traf er sich mit jemandem, um über Arbeiter, Stahl oder Ähnliches zu sprechen?«
    Hester konnte ihr nicht in die Augen sehen und antworten. Solche Geschäfte führten Männer normalerweise nicht bei Nacht in die Leather Lane, aber welchen Sinn hatte es, Baltimores Tochter darauf hinzuweisen? »Darüber wissen diese Frauen nichts«, sagte sie stattdessen. »Sie schlagen sich mühselig durch, indem sie ihren Körper verkaufen, und sie bezahlen einen hohen Preis dafür …« Wieder sah sie Unverständnis. »Sie meinen, sie sollten in einer Fabrik arbeiten? In so einem Ausbeutungsbetrieb? Wissen Sie, was die bezahlen?«
    Livia zögerte. »Nein …«
    »Oder wie viele Stunden man dort arbeitet?«
    »Nein … aber …«
    »Es ist redlich, nicht wahr?« In Hesters Stimme schwang unbeabsichtigt eine Spur Verachtung mit, und an Livias Gesicht war abzulesen, dass es sie verletzte. »Bei den paar Kröten, die sie für vierzehn oder fünfzehn Stunden Arbeit am Tag bekommen, können sie sich es nicht leisten, redlich zu sein«, sagte sie schon freundlicher, aber immer noch mit Wut in der Stimme – nicht auf Livia, sondern auf die Tatsachen. Sie sah, wie sich Livias Augen weiteten. »Besonders wenn sie Kinder haben, um die sie sich kümmern müssen, oder Schulden«, fügte Hester hinzu. »Auf der Straße können sie jede Nacht ein oder zwei Pfund verdienen, selbst wenn sie ihrem Zuhälter seinen Teil abgeben.«
    »Aber …«, setzte Livia noch einmal an und blickte zu Fanny, die zusammengerollt im Bett lag.
    »Die Risiken? Verletzungen, Krankheit, die Unerfreulichkeit des Ganzen?«, fragte Hester. »Gehen Sie einmal in eine solche Tretmühle und schauen Sie, ob Sie es dort besser finden. Die sind eng, schlecht beleuchtet und überfüllt. Dort gibt's genauso viele Krankheiten wie hier. Andere vielleicht, aber bestimmt keinen Deut besser. Tot ist tot, egal, wodurch.«
    »Können Sie mir denn überhaupt nicht helfen?«, fragte Livia leise, Schock und etwas wie Demut in der Miene. »Sie wenigstens fragen?«
    »Fragen kann ich sie«, versprach Hester, erneut von Mitleid überwältigt. »Aber versprechen Sie sich bitte nicht zu viel davon. Ich glaube nicht, dass jemand etwas weiß. Und wenn es um Geschäftliches ging, haben diese Frauen natürlich überhaupt nichts damit zu tun. Die Polizei sagt, er wurde in Abel Smiths … Haus … in der Leather Lane gefunden, aber Abel schwört, dass keine seiner Frauen ihn umgebracht habe. Vielleicht sagen sie die Wahrheit, und er wurde von dem umgebracht, mit dem er sich dort treffen wollte?« Sie sprach nur äußerst ungern aus, was sie im Grunde für eine Lüge hielt. Aber sehr wahrscheinlich würde man nie herausfinden, wer Baltimore umgebracht hatte, ganz zu schweigen davon, warum, also konnte seine Tochter ruhig an ihren trügerischen Hoffnungen festhalten.
    »So war es bestimmt«, sagte Livia und klammerte sich an die Hoffnung wie an einen Rettungsring. »Vielen Dank für Ihre Logik und Ihren gesunden Menschenverstand, Mrs. Monk.«
    Hester wollte den gewonnenen Vorteil nutzen, auch in Livias Sinn. »Könnte Ihr Bruder nicht aufhören, Druck auf die Polizei auszuüben, damit sie die Frauen von der Straße vertreiben?«, schlug sie vor. »Womöglich haben sie gar nichts damit zu tun, und je mehr sie bedrängt werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie überhaupt etwas

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