Tod eines Fremden
sagen.«
»Aber wenn sie nichts wissen …«, setzte Livia an.
»Gesehen haben sie vielleicht nichts«, räumte Hester ein. »Aber sie kriegen einiges mit. An Orten wie diesen sprechen sich die Dinge schnell herum.«
»Ich weiß nicht. Jarvis hört nicht auf …«
Bevor sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte, flog die Haustür weit auf, und ein junger Mann schrie wie panisch um Hilfe. Sein Gesicht war weiß, sein Haar hing ihm regennass in die Augen, und seine dünnen Kleider klebten ihm feucht an der schmalen Brust.
Livia wirbelte herum, und Hester erhob sich in dem Moment, als noch ein sehr viel größerer Mann hereingetaumelt kam, der eine Frau in den Armen hielt. Sie war so blass, dass ihre Haut im Licht der Gaslaternen wie durchsichtig aussah. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Kopf baumelte herum, als sei sie bewusstlos.
»Legen Sie sie hierher.« Hester zeigte auf den großen leeren Tisch.
»Ham Sie noch nich' mal 'n Bett?« Der Große unterdrückte ein Schluchzen. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut, die aber weniger schmerzte als das Entsetzen, das ihn gepackt hatte.
Hester war an außer Kontrolle geratene Gefühle gewöhnt. Weder urteilte sie darüber, noch reagierte sie auf Ungerechtigkeiten.
»Ich muss erst sehen, was mit ihr los ist«, erklärte sie. »Dafür brauche ich eine feste Unterlage und genügend Licht. Legen Sie sie hierher.«
Er gehorchte. Sein Blick beschwor sie, ihr zu helfen und ihm für das Unvorstellbare eine Erklärung zu geben.
Hester betrachtete das Mädchen, das vor ihr lag. Der Mann hatte sie so vorsichtig wie möglich niedergelegt, aber es war klar, dass ihre Knochen gebrochen waren. Ihre Arme und Beine waren ganz verdreht; das Gewebe schwoll an, und die blauen Flecke wurden so schnell dunkler, dass man zuschauen konnte. Die Venen im Hals und in den Schultern des Mädchens traten blau aus der gräulich-weißen Haut hervor. Sie atmete, aber ihre Augenlider flatterten nicht einmal.
»Können Sie ihr helfen?«, wollte der Mann wissen. Der Junge war neben ihn getreten.
»Ich versuche es«, versprach Hester. »Was ist passiert? Wissen Sie es?«
»Jemand hat sie fast zu Tode geprügelt!«, explodierte er. »Können Sie das nicht sehen? Sind Sie blind oder was?«
»Ja, das sehe ich«, sagte Hester und sah nicht ihn, sondern die Frau an. »Ich möchte wissen, wie lange es her ist, dass Sie sie gefunden haben, und ob sie Schnitt- oder Stichwunden hat. Wenn Sie mir das sagen können, ohne dass ich sie bewegen muss, umso besser. Ich sehe, was mit ihren Armen und Beinen los ist. Was ist mit ihrem Leib? Haben Sie gesehen, wo sie geschlagen oder getreten wurde?«
»Meine Güte, Lady! Glauben Sie wirklich, ich hätte das zugelassen? Ich hätte d… den Schweinehund umgebracht, wenn ich d… dort gewesen wäre«, stotterte er, in dem vergeblichen Versuch, die richtigen Worte für die ihn verzehrende Wut zu finden. »Wenn Sie ihr nicht helfen können, dann tun Sie ihr wenigstens nicht noch mehr weh, verstanden?«
Hester legte ihre Hände sehr vorsichtig auf die Arme der Frau und tastete nach den Kanten der Knochen, wo das Gewebe bereits unförmig und zerstört war. Sie stellte einen Bruch am linken Arm fest und zwei am rechten. Das linke Knie war geschwollen, und im linken Fuß waren mindestens zwei kleinere Knochen gebrochen. Das Schlüsselbein war auf einer Seite gebrochen, aber da konnte sie kaum etwas tun. Sie schnitt das Mieder des Mädchens auf, wodurch ein purpurfarbener Fleck sichtbar wurde, der mindestens fünfzehn Zentimeter breit über die Rippen verlief und sich bis über die Taille erstreckte. Genau das hatte sie gefürchtet – innere Blutungen, die sie nicht stillen konnte. Sie wusste einiges über Anatomie. Das meiste davon hatte sie auf dem Schlachtfeld gelernt, indem sie aufgerissene Körper betrachtete hatte, statt ein ordentliches Medizinstudium zu absolvieren, wo man in Ruhe Leichen sezieren konnte. Den Verlauf der Hauptarterien kannte sie auch und wusste, was geschehen konnte, wenn sie verletzt wurden.
»Tun Sie was! Verdammt!«, sagte der Mann verzweifelt und verlagerte erregt seinen immensen Körper immerzu von einem Fuß auf den anderen.
Ohne ihm zu antworten, fuhr Hester fort, so viel wie möglich herauszufinden, ohne den zerschmetterten Körper der Frau zu bewegen. Sie wünschte, Margaret wäre da, um ihr zu helfen. Bessie war nett, aber sie besaß nicht Margarets innere Ruhe und deren sichere Hand. Sie identifizierte sich zu sehr mit den Frauen, unter
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