Tod eines Fremden
auszusprechen wagte, durch eisiges Schweigen zum Ausdruck bringen. Aber sie könnte auch am Morgen kündigen – und die leidende Mrs. Baltimore mit einem empörten Bericht über die ganze Episode völlig aus der Fassung bringen. Um damit zurechtzukommen, würde Livia all ihren Mut und ihre Geduld brauchen.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Hester mit einem angedeuteten Lächeln. »Falls ich etwas erfahre, was Ihnen helfen könnte, sage ich es der Polizei.«
Livia nahm eine Karte aus ihrem Ridikül und reichte sie Hester.
»Bitte. Schreiben Sie, oder kommen Sie einfach vorbei.«
»Das werde ich«, versprach Hester.
»Ich bringe Sie zu Ihrer Kutsche«, bot der Mann an.
Über Livias Miene huschten Schreck und Erleichterung, und dann blitzte vielleicht sogar ein wenig Humor auf. »Vielen Dank«, sagte sie und trat, von dem Mann gefolgt, aus der Tür hinaus auf den Coldbath Square.
Zehn Minuten später kam Bessie mit Lockhart herein, müde und ungepflegt wie immer, aber in voller Bereitschaft zu helfen.
»Sie essen nicht richtig!«, schimpfte Bessie. Offensichtlich hatte sie ihm den ganzen Weg über zugesetzt. »Sie brauchen 'ne ordentliche Fleischpastete!« Sie ging zum Ofen hinüber. »Ich bring Ihnen 'ne Tasse heißen Tee. Mehr kann ich nich' für Sie tun. Is' Ihre eigene Schuld!« Sie führte nicht weiter aus, was sie damit meinte, und Lockhart warf Hester einen gequälten Blick zu, in dem auch Zuneigung lag. Er verstand Bessie besser als sie sich selbst.
Hester erklärte ihm, was sie für das Mädchen getan hatten, und führte ihn hinüber zu ihr.
Er sah sie sich lange und gründlich an, aber das eine, was Hester unbedingt wissen wollte – ob sie innere Blutungen hatte –, konnte er ihr auch nicht sagen.
»Es tut mir Leid«, sagte er kopfschüttelnd und betrachtete das Mädchen voller Mitleid. »Ich weiß es einfach nicht. Aber wenn sich ihr Zustand bis zum Morgen nicht verschlechtert, überlebt sie es vielleicht. Ich schaue gegen Mittag noch einmal herein. Bis dahin können Sie genauso viel für sie tun wie ich. Die Knochen haben Sie jedenfalls gut hingekriegt.«
Es war kurz nach sieben und volles Tageslicht, als Hester aufwachte. Bessie stand mit strahlenden Augen über ihr, ihr Haar löste sich aus seinem festen Knoten, und ihr Kleid war noch zerknitterter als gewöhnlich.
»Sie ist zu sich gekommen!«, sagte sie in ihrem durchdringenden Flüsterton. »Sieht nicht allzu gut aus, das arme Ding. Sie sollten besser nach ihr sehen. Der Kessel ist schon auf'm Herd. Sie sehen aber selbst aus wie aus der Leichenhalle.«
»Vielen Dank«, sagte Hester trocken, setzte sich auf und zuckte zusammen. Ihr Kopf hämmerte, und sie war so müde, dass sie sich schlimmer fühlte, als bevor sie sich hingelegt hatte. Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Ihr Blick fiel auf das Mädchen in dem anderen Bett nur wenige Meter weiter. Sie lag mit offenen Augen da, und ihr Gesicht war so weiß, dass es kaum wärmer schien als das Kissen.
»Nicht bewegen«, sagte Hester sanft. »Hier sind Sie sicher.«
»Ich bin innen drin ganz zerbrochen.« Das Mädchen hauchte die Wörter eher, als dass es sie aussprach. »Himmel, tut das weh!« Ihre Stimme war weich, ihre deutliche Aussprache zeigte, dass sie zum Gesinde gehörte.
»Ich weiß, aber mit der Zeit wird es besser«, versprach Hester und hoffte, dass das auch stimmte.
»Nein«, sagte das Mädchen resigniert. »Ich sterbe. Das ist wohl meine Strafe.« Sie schaute Hester nicht an, sondern blickte mit leeren Augen an die Decke.
Hester berührte die Hand des Mädchens sehr sanft. »Ihre Knochen werden heilen«, erklärte sie ihr. »Ich weiß, dass es jetzt wehtut, aber das wird besser. Wie soll ich Sie nennen?«
»Alice.« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber sie war zu schwach und zu müde, um zu schluchzen. Sie war so verletzt, dass Hester sie unmöglich in den Arm nehmen konnte.
»Ruhen Sie sich aus«, sagte Hester, die gerne mehr für die junge Frau getan hätte. »Hier sind Sie sicher. Wir lassen Sie nicht allein. Gibt es jemanden, dem ich Bescheid sagen soll?«
»Nein!« Sie schaute Hester mit verängstigten Augen an. »Bitte!«
»Wenn Sie es nicht möchten«, versprach Hester, »dann tue ich's auch nicht. Keine Sorge!«
»Ich will nicht, dass man es erfährt«, fuhr Alice fort. »Lassen Sie mich einfach hier sterben, und begraben Sie mich … da, wo Sie Menschen begraben, die niemand kennt.« Sie sagte es ohne
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