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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hinaustrat und mit dem nächsten Hansom zum Coldbath Square fuhr.
    Die Nacht war kühl, und als sie die Tür der Ambulanz öffnete und eintrat, war sie froh über die Wärme, die sie umfing. Bessie saß am Tisch und nähte Knöpfe an eine weiße Bluse. Sie schaute auf, und Freude überzog ihr Gesicht, als sie Hester sah.
    »Sie sehen bedrückt aus«, sagte sie besorgt. »'ne hübsche Tasse heißer Tee wird Ihnen gut tun.« Sie legte die Näharbeit weg und stand auf. »Mit 'nem Tropfen von dem harten Zeug?« Sie griff nicht danach, weil sie wusste, dass Hester ablehnen würde. Das tat sie stets, aber Bessie bot ihr immer wieder etwas an. Es war eine Art Ritual.
    »Nein, vielen Dank«, antwortete Hester mit einem Lächeln und hängte ihren feuchten Mantel an den Haken an der Wand. »Aber lassen Sie sich durch mich nicht stören.«
    Das war auch ein Ritual. »Jetzt, wo Sie es erwähnen«, meinte Bessie, »machen Sie sich nichts draus, wenn ich's tue.« Sie ging zum Herd, um dafür zu sorgen, dass das Wasser im Kessel bald kochte, und Hester schaute nach den Patientinnen.
    Fanny, das Mädchen mit der Stichverletzung, fieberte und hatte große Schmerzen, aber es schien ihr nicht schlechter zu gehen, als Hester erwartet hatte. Solche Wunden heilten nicht schnell, doch ihr Fieber schien bereits leicht zurückzugehen.
    »Haben Sie etwas gegessen?«, fragte Hester sie.
    Fanny nickte. »Ein wenig«, flüsterte sie. »Man hat mir etwas Rindfleischbrühe gebracht. Vielen Dank.«
    Bessie kam auf sie zu, ein großer, mildtätiger Schatten zwischen den Betten, beleuchtet von dem Licht am anderen Ende des Raums.
    »Mr. Lockhart war sehr zufrieden mit ihr«, sagte sie erfreut. »Kam gegen Mittag. Stocknüchtern.« Das letzte Wort sprach sie voller Stolz aus, als sei es zum Teil ihr Verdienst, was es vielleicht sogar war.
    »Haben Sie ihm Mittagessen gegeben?«, fragte Hester, ohne Bessie anzusehen.
    »Und wenn schon!«, meinte Bessie. »Ein bisschen Gemüse und Kartoffeln und ein oder zwei Würstchen sollten wir doch für ihn übrig haben.«
    Hester lächelte, denn sie wusste, dass Bessie es aus ihrer eigenen kärglichen Vorratskammer mitgebracht hatte. »Natürlich haben wir das«, sagte sie und tat so, als wüsste sie es nicht. »Als Lohn für das, was er tut, ist das wenig genug.«
    »Da haben Sie Recht!«, sagte Bessie leidenschaftlich, warf Hester einen argwöhnischen Blick zu und sah dann wieder weg. »Und er hat nach Alice geschaut, dem armen Ding. Meinte, es gehe ihr einigermaßen. Hat sich 'ne ganze Weile mit ihr unterhalten. Er und Miss Margaret haben ihr Arnikaumschläge gemacht, wie wir gestern, es schien ihr ein wenig zu helfen.« In Bessies Stimme lag Angst. Hester wusste, dass sie wissen wollte, ob Alice überleben würde, und doch hatte sie zu viel Angst vor der Antwort, um die Frage zu stellen.
    Die Tatsache, dass Alice seit ihren Verletzungen bereits drei Tage überlebt hatte, war ein äußerst hoffnungsvolles Zeichen. Hätte sie, wie sie fürchteten, innere Blutungen gehabt, wäre sie inzwischen gestorben.
    Hester ging zu ihr und sah, dass sie halb schlief, immer wieder wegdämmerte und leise murmelte, als würde sie von Träumen geplagt. Sie konnten nichts für sie tun. Entweder heilte ihr Körper mit der Zeit, oder sie bekam Fieber oder Brand und starb. Wenn sie wacher war, würden sie ihr nachher ein wenig mehr zu trinken geben, sie mit einem Schwamm mit kaltem Wasser abwaschen und ihr ein frisches Nachthemd anziehen.
    Hester ging zu dem Tisch am anderen Ende des Raums zurück, wo Bessie den Tee ziehen ließ und einen ordentlichen Schuss Whiskey in ihre eigene Tasse goss.
    In der Gegend um den Coldbath Square waren immer noch viele Polizisten unterwegs, die Fragen stellten und die Leute schikanierten. Hester hatte sie bemerkt, sie sahen zutiefst unglücklich aus, konnten dem Unvermeidlichen aber nicht entkommen. Die meisten stammten aus der Gegend und kannten die Frauen – und die Männer, die regelmäßig kamen, um sich ihr Vergnügen zu holen. Im gegenwärtigen Klima waren das jeden Tag weniger. Auch in anderen Bereichen liefen die Geschäfte schlecht; alle, die sich am Rande des Gesetzes bewegten, waren nervös und reizbar. Es gab kein Geld, das für kleine Genüsse wie Pfefferminzwasser, Blumen, Schinkensandwiches, einen neuen Hut oder ein Spielzeug für ein Kind ausgegeben werden konnte. Die Einzigen, die noch etwas verdienten, waren Verkäufer von Streichhölzern und Schnürsenkeln.
    Kurz vor Mitternacht

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