Tod eines Fremden
demütigen und missbrauchen.« Sie sah die Entrüstung in seiner Miene. Könnte er ihr zuhören, ohne etwas zu empfinden, würde sie ihn dafür verachten.
Rathbone warf einen Blick auf Margaret, und ihre Wut besänftigte ihn.
»Fahren Sie fort«, sagte er und wandte sich wieder Hester zu.
»Ich glaube wohl, Sie wissen, dass vor etwas mehr als einer Woche ein Mr. Nolan Baltimore in der Leather Lane ermordet wurde?«, fragte sie.
Er nickte. »Ja.«
»Seither patrouillieren mehr Polizisten als gewöhnlich in der Gegend, mit dem Ergebnis, dass diese Frauen kaum noch Geschäfte machen. Sie verdienen nur wenig oder gar kein Geld und können den Wucherer nicht bezahlen. Sie werden geschlagen, weil sie ihre Schulden nicht tilgen können.« Die Erinnerung an die zwei Frauen löschte für einen Augenblick jedes Gefühl ihrer eigenen Einsamkeit aus. Entschlossen beugte sie sich vor. »Bitte, Oliver, irgendetwas müssen wir doch dagegen tun können. Sie sind viel zu verängstigt und beschämt, um sich zu wehren.« Sie sah, wie er nach Worten für eine freundliche Absage suchte. Sie verlangte zu viel. Gerne hätte sie sich zurückgezogen, wäre vernünftig gewesen, aber der Schmerz brannte zu heiß in ihr.
»Hester …«, setzte er an.
»Ich weiß, dass die ganze Welt um den Coldbath Square und die Leather Lane außerhalb des Gesetzes steht«, sagte sie schnell, bevor er sie fallen lassen konnte. »Das sollte nicht so sein! Müssen wir immer warten, bis Menschen zu uns kommen, bevor wir ihnen helfen können? Manchmal müssen wir das Problem schneller erkennen und es einfach angehen.« Margaret erstarrte. Vielleicht war sie es nicht gewöhnt, dass eine Frau so freimütig mit einem Mann sprach. Es war ungebührlich, und auf diesem Weg gewann oder hielt man keinen Ehemann.
»Sie meinen, für sie entscheiden?«, sagte Rathbone mit einem trockenen Lächeln. »Das klingt aber gar nicht nach Ihnen, Hester.«
»Ich bin Krankenschwester und keine Anwältin!«, sagte sie scharf. »Ich muss sehr oft Menschen helfen, die längst nicht mehr für sich selbst entscheiden können. Es ist meine Aufgabe zu wissen, was sie brauchen, und es dann auch umzusetzen.«
Diesmal war sein Lächeln voller Wärme und ungekünstelter Freundlichkeit. »Ich weiß. Diese Zivilcourage bewundere ich an Ihnen, seit ich Sie kenne. Doch weil ich selbst keine besitze, finde ich sie ein wenig überwältigend.«
Sie spürte, dass Tränen in ihren Augen brannten. Sie wusste, dass es ihm ernst war damit, und es bedeutete ihr mehr, als sie erwartet hatte. Trotzdem wollte sie noch weiterstreiten. Bloß, dass das Frauen wie Alice und Fanny nichts nützte. »Oliver …«
Margaret beugte sich vor. »Sir Oliver«, sagte sie drängend. Ihre Wangen hatten sich gerötet, doch ihr Blick war fest. »Wenn Sie den Körper dieser armen Frau gesehen hätten, ihre gebrochenen Arme und Beine, ihre Angst, ihren Schmerz und die Scham, die sie empfindet, weil sie sich prostituieren muss, um die Schulden ihres Mannes zu bezahlen, würden Sie das Gleiche empfinden wie wir. Wenn wir ihr den täglichen Schmerz erleichtern und sie gesund pflegen, nur um sie dann wieder hinaus auf den Coldbath Square zu schicken, wo sich alles wiederholt, weil ihre Schulden immer größer werden …«
»Miss Ballinger …«
»Dann …« Sie hielt abrupt inne, die Röte in ihrem Gesicht vertiefte sich, als ihr bewusst wurde, wie dreist sie war. »Es tut mir Leid«, sagte sie zerknirscht. »Sicher interessiert ein solcher Fall Sie nicht. Und wir haben kein Geld, um Sie zu bezahlen.« Sie stand auf, die Augen vor Verlegenheit gesenkt. »Es war ein Akt der Verzweiflung …«
»Miss Ballinger!« Auch er stand auf und ging um den Tisch auf sie zu. »Bitte«, sagte er freundlich. »Ich wollte gar nicht ablehnen, ich weiß nur einfach nicht, was ich tun könnte! Aber ich verspreche Ihnen, dass ich der Sache meine Aufmerksamkeit widmen werde, und wenn ich eine gesetzliche Möglichkeit sehe, werde ich es Ihnen sagen und Ihre Anweisungen entgegennehmen. Geld spielt keine Rolle. Ich zögere nur, weil ich nichts versprechen möchte, was außerhalb meiner Macht steht.«
Margaret schaute rasch zu ihm auf, ihr Blick war offen und direkt und ihr Gesicht voller Dankbarkeit. »Vielen Dank …«
Hester war erstaunt und schockiert darüber, dass Rathbone bereit war, einer Bitte nachzukommen, die ihn nicht interessierte und ihm völlig gegen den Strich ging, um Margaret nichts abzuschlagen. Es war nicht wie früher
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