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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Hester, der er einen Gefallen tun wollte. Sie war natürlich froh, dass er einverstanden war, und dankbar, aber sie empfand es als Abfuhr, dass es nicht um ihretwillen geschah. Es war nicht offensichtlich – er war in keiner Weise weniger freundlich zu ihr gewesen, aber die Natur seiner Freundlichkeit war eine andere. Sie spürte es so deutlich wie eine Veränderung der Lufttemperatur. Sie hätte sich für die beiden freuen sollen. Sie freute sich! Sie wollte nicht, dass Rathbone den Rest seines Lebens in sie verliebt war. Aber gerade heute war es, als sei eine Tür vor ihr zugeschlagen, und das schmerzte sie.
    Rathbone hatte sich ihr zugewandt. Sie konnte nicht anders, sie musste lächeln.
    »Vielen Dank«, fügte sie Margarets Worten hinzu. »Ich glaube, wir haben Ihnen alles erzählt, was wir wissen. Es geht bisher mehr um das Prinzip als um die einzelnen Frauen, aber wenn wir noch etwas erfahren, werden wir Sie natürlich informieren.«
    Es gab nichts mehr zu sagen, und sie wussten, wie liebenswürdig es von ihm gewesen war, sie überhaupt zu empfangen und andere Mandanten warten zu lassen. Sie entschuldigten sich und dankten ihm noch einmal, und fünf Minuten später saßen sie in einem Hansom, der sie zurück zum Coldbath Square brachte. Sie schwiegen, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft. Margarets Wangen waren immer noch gerötet, ihre Augen waren weit aufgerissen und von Hester abgewandt, sie starrte aus dem Fenster auf die vorbeihuschenden Straßen. Keine Worte hätten beredter von der Tatsache berichten können, dass sie ihr erstes Zusammentreffen mit Rathbone ganz offensichtlich nicht vergessen hatte, und der Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, hatte sich in der Zwischenzeit nicht abgenutzt. Aber das war zu heikel, um darüber zu sprechen. Umgekehrt hätte Hester auch nichts gesagt, und sie wollte sich jetzt nicht aufdrängen. Sie und Margaret verband eine offene und herzliche Freundschaft. Zu einer solchen Freundschaft gehörten Respekt und das Wissen darum, wann man besser schwieg.
    Auch sie wollte ihre privaten Gedanken für sich behalten. Außer die oberflächlichen, etwa, wie schwierig es sein würde, die Frauen zu finden, die dem Halsabschneider Geld schuldeten, wie man ihnen klar machen sollte, dass Hilfe möglich war – falls sie das denn war –, und die Anstrengung, die notwendig sein würde, um sie davon zu überzeugen, dass sie, wenn sie mutig wären, etwas anderes erreichen könnten als weiteren Schmerz. Vor allem mussten sie absolut sicher sein, dass das auch stimmte.
    Aber Margaret arbeitete lange genug am Coldbath Square, um das selbst zu wissen, also sah auch Hester auf die Straßen hinaus und dachte an praktische Dinge.
    Am Nachmittag wurde eine weitere Frau gebracht, die wegen Schulden zusammengeschlagen worden war. Sie war nicht sehr schwer verletzt, aber sie hatte große Angst, und das war es, wodurch sie sich von der Wut und dem Elend der Verletzten unterschied. Sie sagte fast nichts, während Hester und Margaret sich um ihre schmerzhaften, nicht sehr tiefen Schnittwunden kümmerten. Sie wollte nicht sagen, wer sie ihr zugefügt hatte, weder Lügen noch die Wahrheit, aber ganz offensichtlich waren sie ihr absichtlich zugefügt worden. Kein Unfall konnte zu so vielen bösen Stichwunden führen.
    Sie blieb ein paar Stunden, bis sie sicher waren, dass die Blutungen gestillt waren und die Frau sich wenigstens ein wenig von dem Schock erholt hatte. Gerne hätte Margaret es gesehen, wenn sie länger geblieben wäre, aber sie griff kopfschüttelnd nach ihrem zerrissenen Schal, der mit seinen Fransen und Blumen sicher einst sehr hübsch gewesen war, und ging hinaus auf den Platz in Richtung Farringdon Road.
    Margaret stand mitten im Raum und sah sich um, betrachtete die reinlichen Schränke, die geschrubbten Tische und den Fußboden.
    Hester zuckte die Achseln. »Ich nehme an, wir sollten froh sein, dass nicht noch jemand verletzt wurde«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. »Möchten Sie nach Hause gehen? Es gibt wirklich nichts zu tun, und Bessie kommt später, wenn etwas sein sollte.«
    Margaret verzog das Gesicht. »Und hinter Mama herlaufen und nette Damen besuchen, die mich mit freundlicher Verzweiflung anschauen und sich fragen, warum ich ein vernünftiges Heiratsangebot nicht angenommen habe?«, sagte sie ironisch. »Dann nehmen sie an, dass mit mir irgendetwas Schreckliches nicht stimmt – zu skandalös, um es zu erwähnen, und sie glauben, ich hätte meine Tugend

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