Tod eines Fremden
verloren!« Sie stieß ein leises enttäuschtes Stöhnen aus. »Warum schreibt man jungen Frauen nur zwei Tugenden zu – Keuschheit und Gehorsam?«, wollte sie mit plötzlicher Heftigkeit wissen. »Was ist mit Mut oder geistiger Selbstständigkeit, statt immer nur nach dem zu greifen, was einem sowieso schon gehört?«
»Weil das den Leuten unbehaglich ist«, antwortete Hester ohne Zögern, warf Margaret dabei aber ein schiefes, mitfühlendes Lächeln zu.
»Können Sie sich etwas Einsameres vorstellen, als mit jemandem verheiratet zu sein, der stets sagt, was Sie hören möchten, ungeachtet dessen, was er eigentlich denkt?«, fragte Margaret, die Augenbrauen zu einem Stirnrunzeln zusammengezogen. »Es wäre, als lebte man in einem Raum voller Spiegel, wo jedes andere Gesicht, das man sähe, nur das eigene Spiegelbild wäre.«
»Ich glaube, das wäre eine ganz besondere Art der Hölle«, entgegnete Hester, und ein Schauer aus Verwunderung und Mitleid überkam sie, dass irgendjemand wirklich glaubte, sie wollten so etwas, und doch kannte sie viele Männer, die das tatsächlich glaubten. »Sie haben das Talent, es in sehr deutliche Worte zu kleiden«, fügte sie bewundernd hinzu. »Vielleicht sollten Sie versuchen, es irgendwann einmal bildlich darzustellen?«
»Das wäre etwas, das zu zeichnen sich wirklich lohnen würde«, erwiderte Margaret. »Es langweilt mich, das Vorhersagbare zu tun, und nur das, was ich vor mir sehe, einfach so nachzubilden.«
»Ich kann kaum eine gerade Linie zeichnen«, räumte Hester ein.
Margaret warf ihr ein Lächeln zu. »In der Kunst gibt es keine geraden Linien – außer vielleicht beim Meereshorizont. Soll ich rausgehen und sehen, ob ich uns etwas Warmes zum Mittagessen besorgen kann? An der Ecke Mount Pleasant und Warner Street ist ein guter Straßenhändler.«
»Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Hester begeistert. »Mit Blätterteig, bitte, und viel Zwiebeln.«
Am späten Nachmittag kam Bessie mit einem Korb voller Kräuter, Tee, einer Flasche Brandy und einem Laib Brot. Sie stellte alles auf den Tisch und sah sich im Raum um.
»Niemand!«, sagte sie empört, legte Cape und Hut ab und hängte sie an die Haken neben der Tür. »In den Straßen trifft man auch kaum eine verdammte Seele, außer die verfluchten Polypen! Angeblich war's die ganze Nacht so.« Sie sah Hester vorwurfsvoll an, als hätte diese es versäumt, etwas dagegen zu unternehmen.
»Ich weiß!«, antwortete Hester scharf. »Sie stehen immer noch unter Druck, den Mörder von Nolan Baltimore zu finden.«
»Irgendein Zuhälter, den er hintergangen hat«, erwiderte Bessie. »Wer sonst? Glauben die wirklich, irgendjemand würde ihnen was erzählen, wenn sie nur oft genug fragen? Denken doch, dass außer dem, der's war, keiner was weiß. Und der wird nix sagen. Würde im Handumdrehen am Ende eines Stricks baumeln.« Sie ging zum Schrank hinüber und schob die Sachen darin zur Seite, um ihre Einkäufe zu verstauen. »Witzig, was? Irgendein Halsabschneider prügelt ein Mädchen halb zu Tode, und allen ist es scheißegal! Wenn aber so'n feiner Pinkel, der sich weigert, seine Schulden zu bezahlen, umgebracht wird, ist die halbe Londoner Polizei auf der Straße und vergeudet ihre Zeit mit Fragen, auf die sie sowieso keine Antworten kriegt. Manchmal glaub ich wirklich, die sitzen auf ihrem Hirn und denken mit dem Hintern!« Sie warf einen wütenden Blick in den Korb. »Hab keine Butter bekommen. Gibt's eben nur Brot und Marmelade.«
Margaret hörte auf, den Herd zu rütteln, und schob den Kessel auf die Kochstelle.
»Niemand arbeitet!«, fuhr Bessie unerbittlich fort. »Die, die das Geld reinbringen, haben Angst, vor der Polizei … und dem ganzen ›Haltet die Straßen sauber‹-Mist. Und die von hier machen keine Geschäfte, weil keiner Geld hat! Das ist richtig mies.«
Darauf gab es keine Antwort. Es war, wie Hester bemerkte, sinnlos, dass Hester und Margaret den ganzen Nachmittag dort blieben. Bessie stimmte ihr zu.
»Sie gehen jetzt.« Sie nickte. »Hier wird nicht viel passieren. Wenn der fette Faulpelz Jessop kommt und Sie sucht, geb ich ihm 'ne hübsche Tasse Tee!« Sie grinste teuflisch.
»Bessie!«, sagte Hester drohend.
»Was?« Sie machte große Augen. »Wenn's ihm nicht bekommt, geb ich ihm was, damit er's wieder auskotzt! Ich lass den Scheißkerl schon nicht krepieren, mein Wort drauf.« Sie spuckte aus und legte sich umständlich die Hand aufs Herz.
Hester blickte zu Margaret hinüber, und die
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