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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ging schnell in Richtung Leather Lane.
    Sie wollte mit dem Haus beginnen, in dem Nolan Baltimore gefunden worden war, aber sie musste vorsichtig sein. Sie durfte nicht die Aufmerksamkeit der durch die Straßen und Gassen patrouillierenden Polizei auf sich ziehen, insbesondere nicht die von Constable Hart, der sie sofort erkennen und wahrscheinlich ahnen würde, was sie vorhatte.
    Sie verlangsamte ihre Schritte, bis sie ungefähr so langsam war wie die Frau mittleren Alters vor ihr, hielt etwa sechs Meter Abstand und versuchte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie kam an die Ecke, wo die Bath Street in die Lower Bath Street überging, dann die breite Hauptverkehrsstraße Theobald's Road querte und in die Leather Lane mündete.
    An der Ecke stand ein Polizist, der müde und niedergeschlagen aussah. Wie sollte sie irgendjemandem das Bild zeigen, ohne seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Das ging nur unter einer der wenigen Straßenlaternen. Denn in den düsteren Schatten in der Nähe der Mauern oder in einem Torweg oder einer Gasse würde ihn wohl kaum jemand auf dem Bild erkennen können.
    Der Wachtmeister beobachtete sie, ohne etwas zu sagen und ohne offensichtliches Interesse. Gut. Das hieß, dass er sie für eine Anwohnerin hielt, was zwar nicht schmeichelhaft war, aber im Augenblick genau das, was sie brauchte. Angespannt lächelnd ging sie die Leather Lane hinunter.
    In der Nähe der nächsten Straßenlampe stand ein Mädchen. Das Licht, das auf sie herunterschien, ließ ihr Haar erstrahlen. Sie war noch längst nicht zwanzig und auch nicht besonders hübsch, aber sie hatte doch eine bestimmte Frische an sich. Hester kannte sie nicht, und plötzlich war sie sehr nervös, einer vollkommen Fremden ihre Fragen zu stellen.
    Aber vielleicht kannte nur ein Fremder die Antwort, und sie wollte nicht nach Coldbath zurückgehen und erzählen, dass sie zu feige gewesen war zu fragen! Das wäre schlimmer als alles, was das Mädchen zu ihr sagen konnte.
    »Entschuldigen Sie bitte«, fing sie zaghaft an.
    Das Mädchen sah sie an, Feindseligkeit blitzte in ihren Augen. »Bleib bloß nich' hier stehen«, sagte sie mit tiefer, ruhiger Stimme. »Das ist mein Revier, und mein Alter poliert dir die Fresse, wenn du's hier versuchst. Such dir 'nen eigenen Platz.« Sie betrachtete Hester mit mehr Aufmerksamkeit. »Hübsch biste ja nich' gerade, gehst aber herum, als wärst du was Besseres. Gibt einige, die das mögen. Versuch's mal da oben.« Sie zeigte in Richtung der hohen Mauern der Brauerei in der Portpool Lane.
    Hester schluckte ihren Ärger mühsam hinunter. Die Beleidigung schmerzte, was lächerlich war. Sie wusste sehr wohl um ihre eigene Leidenschaft, dazu erinnerte sie sich an zu viele Nächte, aber sie konnte es trotzdem nicht leiden, wenn jemand ihr sagte, sie sehe nicht besonders gut aus. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, das zurückzugeben, was sie hatte einstecken müssen.
    »Ihren Platz möchte ich nicht«, sagte sie kühl. Ihr besserer Verstand sagte ihr, dass das Mädchen nur ums Überleben kämpfte. Sie musste wahrscheinlich um alles kämpfen, was sie bekam, und dann weiterkämpfen, um es zu behalten. »Ich möchte nur wissen, ob Sie einen bestimmten Mann schon mal in der Gegend hier gesehen haben.«
    »Sieh mal«, antwortete das Mädchen mitleidig, »wenn dein Alter herkommt, um sein Vergnügen zu haben, solltest du wegschauen und dich an dein Haus und deine Kinder halten. Mit 'nem Dach überm Kopf und was zu essen im Bauch braucht man nicht den Mond anzuheulen. Davon kriegst du nur 'nen wunden Hals – und wenn du andere Leute ärgerst, kriegste noch 'nen Eimer kaltes Wasser über – oder Schlimmeres.«
    Hester zögerte. Welche erfundene Geschichte würde das Mädchen ihr glauben und ihr dann noch die nötigen Informationen geben? Das Mädchen wandte sich schon ab. Vielleicht war die Wahrheit die einzige Lösung.
    »Es ist der Mann, der umgebracht wurde«, sagte sie abrupt und spürte, wie Hitze durch ihren Körper wallte, und dann Kälte, als sie sich unwiederbringlich kompromittierte. »Ich will, dass die Polizei aus der Gegend verschwindet und alles wieder normal wird.« Sie sah den Unglauben im Gesicht des Mädchens. Jetzt gab es keine andere Möglichkeit, als fortzufahren. »Die kriegen nicht raus, wer es war!«, sagte sie abrupt. »Die einzige Möglichkeit, sie endlich von hinten zu sehen, ist, dass jemand anderes es rausfindet.« Sie griff in ihre Tasche und zog das Bild von Nolan Baltimore

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