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Tod eines Fremden

Titel: Tod eines Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hervor.
    Das Mädchen warf einen Blick darauf. »Isser das?«, fragte sie neugierig. »Hab ihn nie gesehen. Tut mir Leid.«
    Hester musterte das Gesicht des Mädchens und versuchte herauszufinden, ob sie ihr glauben konnte oder nicht.
    Das Mädchen lächelte freudlos. »Nee. Ich weiß, dass er bei Abel Smith gefunden wurde, aber ich hab ihn hier noch nie nich' gesehen.«
    »Vielen Dank.« Sie überlegte, ob sie dieses sehr selbstbeherrschte Mädchen auch noch fragen sollte, wo das Bordell war, in dem höher stehende Frauen wie sie arbeiteten. Womöglich war es das des Wucherers. Sie holte Luft.
    Das Mädchen starrte sie wütend an, das warnende Flackern war wieder in ihren Augen.
    »Vielen Dank«, wiederholte Hester, schob das Bild in ihre Tasche zurück und ging weiter bis fast zur High Holborn und dann die Farringdon Road hinauf und über die Hatton Wall zurück zur Leather Lane. Von all den Leuten, die sie ansprach, um ihnen die Zeichnung zu zeigen, wollte niemand zugeben, Nolan Baltimore je gesehen zu haben.
    Inzwischen war es richtig dunkel und entschieden kälter. Nur wenige Leute waren unterwegs. Ein Mann in einem zu großen Mantel eilte den Gehweg entlang. Er zog einen Fuß ein wenig nach, sein Schatten krümmte sich auf den Steinen, als er unter der Straßenlaterne durchging.
    Auf der anderen Straßenseite stolzierte eine Frau gemächlich vorbei, sie hielt den Kopf hoch, als sei sie voller Selbstvertrauen. Als sie um die Ecke in die Hatton Wall einbog, verlangsamte ein Hansom. Hester sah nicht, ob die Frau einstieg oder nicht.
    Ein Bettler verschwand in einer engen Türöffnung, als wollte er sich für die Nacht dort niederlassen.
    Hester hatte nichts erreicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob die Leute aus Angst oder Halsstarrigkeit logen oder ob tatsächlich niemand Baltimore gesehen hatte.
    Hieß das, dass er nicht hier gewesen war? Oder war er einfach nur äußerst vorsichtig gewesen? Würde ein Mann wie Nolan Baltimore nicht automatisch vorsichtig sein, um nicht erkannt zu werden? Wozu war er hierher gekommen? Ein geheimes geschäftliches Treffen, das mit Landbetrug zu tun hatte? Oder, sehr viel wahrscheinlicher, um einer Vorliebe für ein derbes Vergnügen und Praktiken nachzugehen, was er zu Hause nicht konnte.
    Zumindest wusste sie, wo Abel Smiths Etablissement war, und sie beschloss als letzte Rettung, dorthin zu gehen und ihm gegenüberzutreten. Sie lenkte ihre Schritte wieder die Leather Lane hinunter und trat schließlich in eine kurze Gasse, die von der Straße abzweigte und eine schiefe Treppe hinaufführte. Sie hörte schwaches Tropfen, das Knarren von Holz und ab und zu das Huschen kleiner Klauen. Das letzte Geräusch erinnerte sie an die Ratten in dem Krankenhaus in Scutari, und sie biss die Zähne zusammen und ging ein wenig schneller.
    Die Tür ging auf, als sie just davor stand, und erschrocken zuckte sie zusammen. Ein kahlköpfiger Mann mit einem freundlichen Gesicht stand vor ihr. Das Licht hinter ihm verwandelte die wenigen weißen Haare auf seinem Schädel in einen Heiligenschein.
    »Haben Sie sich verlaufen?«, fragte er zischend, als hätte er einen abgebrochenen Zahn. Erst als sie die oberste Treppenstufe erreichte, bemerkte sie, dass er einige Zentimeter kleiner war als sie.
    »Das hängt davon ab, ob dies das Haus von Abel Smith ist oder nicht«, antwortete sie, froh, dass sie, wenn sie schon ohne Verstand, dann nicht auch noch außer Atem war. »Denn wenn es das ist, dann bin ich genau da, wo ich sein will.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ja bereit, so manches zu versuchen, aber für hier taugen Sie nichts.« Er sah sie von oben bis unten an. »Wenn Sie in Not sind, gebe ich Ihnen ein Bett für die Nacht, aber morgen müssen Sie sich was anderes suchen. Mit Ihnen mache ich kein Geschäft.«
    »Nein«, stimmte sie ihm zu. »Aber ich kenne ein paar Mädchen, die gut hierher passen. Ich führe das Haus in Coldbath, das sich um kranke und verletzte Frauen kümmert.«
    Er kniff die Augen zusammen und pfiff durch die Zahnlücke. »Hier gibt's keine Kranken, und ich hab nicht um einen Hausbesuch gebeten!«
    »Deswegen bin ich auch nicht hier«, erwiderte sie und beschloss, die Wahrheit ein bisschen weiter auszulegen. »Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass die Polizei die Gegend wieder verlässt und wir alle zu unserem normalen Alltag zurückkehren können.«
    »Ach ja? Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?« Skeptisch betrachtete er ihren schlanken, kerzengeraden Körper

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