Tod eines Fremden
verriet so viel aufgestaute Emotionen, dass mehrere Menschen in der Nähe sich umdrehten und die beiden anschauten und sich, als sie dabei erwischt wurden, verlegen abwandten.
»Miss Harcus!«, sagte er. »Bitte!«
»Nein«, erwiderte sie, aber weniger heftig. »Ich … ich kann nicht glauben, dass …« Sie ließ den Satz unvollendet.
Sie wussten beide, was sie quälte. Die Möglichkeit war allzu offensichtlich. Wenn der Betrug so immens und der Gewinn so hoch war, wie sie fürchtete, dann konnte Nolan Baltimore leicht deswegen ermordet worden sein. Er hatte es womöglich gewusst, und er und sein Mörder hatten sich gestritten, weil er einen zu großen Anteil wollte oder den Plan auf andere Weise bedroht hatte. Vielleicht war er auch nicht eingeweiht gewesen, hatte es aber herausgefunden und musste zum Schweigen gebracht werden, bevor er sie verriet. Michael Dalgarno war der erste Verdächtige. Soweit Katrina wusste, steckten nur Dalgar-no und Jarvis Baltimore dahinter.
Monk fühlte mit ihr. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie es war, wenn man Angst vor der Wahrheit hatte und doch gezwungen war, nach ihr zu suchen. Alles Leugnen in der Welt änderte nichts, und doch würde das Wissen endgültig und unwiderlegbar alles, was wichtig war, zerstören.
Für sie würde das bedeuten, dass der Mann, den sie liebte, in gewisser Weise nie existiert hatte. Selbst bevor er an dem betreffenden Abend in die Leather Lane gegangen war, bevor irgendetwas unwiderruflich war, hatte er die Saat davon in sich getragen, die Grausamkeit und die Gier, die Überheblichkeit, die seinen eigenen Vorteil über das Leben eines anderen Mannes stellte. Er hatte sich selbst betrogen, lange bevor er Katrina oder seinen Mentor und Arbeitgeber betrogen hatte.
Und wenn Monk Arrol Dundas betrogen und auch nur das Geringste über den Eisenbahnunfall gewusst hatte oder gar daran beteiligt gewesen war, dann war er nie der Mann gewesen, den Hester in ihm sah, und alles, was er so sorgfältig und unter schmerzhaftem Verzicht auf seinen Stolz aufgebaut hatte, würde zusammenbrechen wie ein Kartenhaus.
Plötzlich war ihm diese Frau, die er kaum kannte, näher als irgendjemand sonst. Sie empfanden beide eine Angst, die ihr Leben beherrschte und alles andere ausschloss.
Sie starrte ihn immer noch entsetzt schweigend an.
»Miss Harcus«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die ihn erstaunte, und diesmal zögerte er nicht, sie zu berühren. Es war nur eine kleine Geste, aber voll tiefem Verständnis. »Ich werde die Wahrheit herausfinden«, versprach er ihr. »Wenn ein Betrug begangen wurde, werde ich ihn aufdecken und zukünftige Unfälle verhindern. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um herauszufinden, wer Nolan Baltimore umgebracht hat.« Er sah sie ernst an. »Aber wenn nicht, dann hätte Michael Dalgarno kein Motiv gehabt, ihm etwas anzutun. Baltimore wurde womöglich im Streit um Geld getötet, nicht wegen eines Vermögens, sondern wegen ein paar Pfund, von denen ein betrunkener Zuhälter glaubte, er schuldete sie ihm. Vielleicht hatte man keine Ahnung, wer er war. Hatte er ein hitziges Gemüt?«
Ein winziges Lächeln huschte über ihre Lippen, und ihr Körper entspannte sich ein wenig. »Ja«, flüsterte sie. »Ja, er ging schnell in die Luft. Ich danke Ihnen mehr, als ich sagen kann, Mr. Monk. Sie haben mir zumindest Hoffnung gegeben. Daran werde ich mich festhalten, bis Sie mir Neuigkeiten bringen.« Sie senkte den Blick, dann sah sie ihn wieder an. »Ich schulde Ihnen sicher noch mehr, und Sie haben Ausgaben wegen all der Reisen, die Sie um meinetwillen unternommen haben. Würden weitere fünfzehn Pfund im Augenblick genügen? Es … es ist alles, was ich Ihnen geben kann.« Vor Verlegenheit überzog eine leichte Röte ihre Wangen.
»Das würde ausreichen«, antwortete er, nahm das Geld und schob es so unauffällig wie möglich in seine Innentasche, wobei er so tat, als suchte er nach einem Taschentuch. Er zog es heraus und sah Begreifen und Anerkennung in ihren Augen aufblitzen, als Zeichen des Dankes.
Es war Zeit, dass Monk die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zog, dass Baltimores Tod nicht der Prostitutionsskandal war, den alle dahinter vermuteten, sondern ein sehr persönlicher Mord, der nur zufällig in der Nähe des Bordells in der Leather Lane begangen worden war. Falls Dalgarno oder Jarvis Baltimore den älteren Mann hatten umbringen wollen, war der Mord hinter der Maske seiner privaten Laster das perfekte
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