Tod eines Fremden
innerhalb von einem Tag zwanzig Jahre älter gemacht. Auch um seiner Frau willen. Bis zum Ende hatte sie gehofft und eine Stärke an den Tag gelegt, die sie alle getragen hatte, aber jetzt gab es nichts mehr zu hoffen. Es war vorbei.
Und auch um seiner selbst willen. Zum ersten Mal hatte er bittere und schreckliche Einsamkeit erleben müssen. Es war ein Wissen um Verlust, darum, dass etwas wirklich Kostbares aus seinem Leben verschwunden war.
Wie viel hatte er damals gewusst? Er war viel jünger gewesen, ein guter Bankangestellter, aber was kriminelle Machenschaften anging, hoffnungslos naiv. Das war vor seiner Zeit als Polizist. Er war es gewöhnt, den Charakter von Menschen einzuschätzen, aber noch hatte er nicht das Auge für Unredlichkeit, das er später entwickeln würde. Noch hatte er nichts über alle möglichen Arten von Betrug, Veruntreuung und Diebstahl gewusst – und noch hatte sich der Argwohn nicht so tief in jede einzelne seiner Gedankenbahnen eingegraben.
Er hatte Dundas glauben wollen. All seine Gefühle und seine Loyalität hingen an dessen Ehrlichkeit und Freundschaft. Es war, als würde man gezwungen zu akzeptieren, dass der eigene Vater einen jahrelang getäuscht hatte und alles, was man von ihm gelernt hatte, nicht nur gegenüber der Welt, sondern besonders einem selbst gegenüber mit Lügen befleckt war.
Hatte er Dundas deshalb geglaubt? Und die anderen nicht? Alle Beweise existierten nur auf dem Papier. Jeder hätte Papiere beibringen können, jeder einzelne der an dem Unternehmen Beteiligten, sogar Baltimore selbst. Aber Dundas hatte sich kaum gewehrt! Zuerst hatte es so ausgesehen, dann allerdings war er in sich zusammengesunken, als spürte er die Niederlage, noch bevor er überhaupt zu kämpfen begonnen hatte.
Aber Monk war sich seiner Unschuld so sicher gewesen!
Hatte er etwas gewusst, was er vor Gericht nicht gesagt hatte, etwas, was bewiesen hätte, dass entweder keine bewusste Täuschung vorlag, oder wenn doch, dann von Seiten Baltimores? Schließlich gab es keinen Beweis dafür, dass es Dundas' Idee gewesen war, die Strecke umzuleiten. Es gab auch keinen Beweis dafür, dass er den Landbesitzer getroffen oder irgendein – finanzielles oder anderweitiges – Geschenk von ihm angenommen hatte. Die Bücher des Landbesitzers waren von der Polizei nicht überprüft worden, um Geldtransaktionen zu verfolgen. Auf Dundas' Konto wurde nichts anderes gefunden als der Gewinn aus dem Verkauf seines eigenen Grundstücks. Schlimmstenfalls hätte man hier von besonderer Geschäftstüchtigkeit sprechen können, so etwas geschah ja täglich. Das lag nun einmal im Wesen der Spekulation. Jede zweite Familie in Europa hatte schließlich ihr Glück auf Wegen gemacht, über die man nicht zu reden beliebte.
Was konnte er selbst gewusst haben? Wo mehr Geld war? Warum hatte er geschwiegen? Um Dundas' Tat zu verschleiern? Damit das Geld nicht eingezogen wurde? Für wen – für Mrs. Dundas oder für ihn selbst?
Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, seine verspannten Muskeln schmerzten. Er zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Er musste herausfinden, welche Rolle er dabei gespielt hatte – das war der Kern dessen, wer er damals gewesen war.
Damals? Er benutzte das Wort so, als könnte er sich damit von dem Mann distanzieren, der er damals gewesen war, und sich somit jeglicher Verantwortung entledigen.
Schließlich blickte er der Sache ins Gesicht, die fest mit der Geschichte verwoben war und die er, indem er den Aussagen über das Geld nachgegangen war, ignoriert hatte – dem Unfall. In den Berichten über das Verfahren wurde er nicht erwähnt, nicht einmal indirekt. Entweder war der Unfall irrelevant, oder er war zu der Zeit noch nicht passiert. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden.
Monk blätterte weiter und sah sich nur noch die Überschriften an. Sie würde sicher in dicken schwarzen Buchstaben gedruckt sein.
Genau das war sie – fast einen Monat später, oben auf der ersten Seite: E ISENBAHNUNGLÜCK TÖTET ÜBER VIERZIG K IN DER , ALS K OHLENZUG IN S ONDERZUG AUS L IVERPOOL RAST .
Die Worte waren ihm nicht vertraut, obwohl er sie damals sicher gelesen hatte. Er hatte auf jeden Fall darüber Bescheid gewusst. Die Überschrift an sich hatte ihm sicher nichts bedeutet. Es war nur irgendein Bericht über ein unsagbares Grauen. Als er jetzt auf die Zeilen schaute, bedeuteten sie ihm alles. Lange hatte er nicht gewusst, ob er die Wahrheit wirklich finden oder sie für
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