Tod eines Fremden
niemandem gelingen«, fügte er hinzu. »London will nicht aufgeräumt werden. Die Straßenmädchen sind nicht das Problem. Das Problem sind die Männer, die sie aufsuchen!«
»Natürlich«, räumte Hester ein. »Möchten Sie etwas Toast?«
Die Frage war, wie vorauszusehen gewesen war, natürlich vollkommen überflüssig. Sein Gesicht erhellte sich.
Er räusperte sich. »Haben Sie Schwarze-Johannisbeer-Marmelade?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Natürlich.« Sie lächelte, und er wurde ein bisschen rot. Sie stand auf und schnitt Brot, röstete es, auf eine Gabel gespießt, am Herdfeuer und brachte es dann zusammen mit Butter und Marmelade an den Tisch.
»Danke«, sagte er mit vollem Mund.
Sie und Margaret hatten in den letzten Tagen versucht, mehr Spendengelder aufzutreiben, und weitere Gespräche mit Jessop geführt, die je nach Stimmung von beschwichtigend bis streitbar verlaufen waren. Noch nie hatte Hester eine so starke Abneigung gegen jemanden empfunden. »Sind Sie der Aufklärung des Mordes an Baltimore einen Schritt näher gekommen?«, fragte sie Hart.
Er starrte finster auf die Krümel auf seinem Teller und zuckte die Achseln. »Nicht, soweit ich weiß«, räumte er ein. »Die Mädchen von Abel Smith versichern hoch und heilig, dass sie es nicht waren, und ich für meinen Teil glaube ihnen. Was nicht heißt, dass die hohen Tiere auf das hören würden, was ich sage.« Als er aufschaute, war sein Gesicht voller Zorn.
»Aber ich will verflucht sein, wenn ich zulasse, dass irgendein armes Weib für Mord gehängt wird, nur um Baltimores Familie und seinesgleichen zufrieden zu stellen und die Lage wieder zu beruhigen. Sie können noch so sehr beteuern, dass sie es gerne anders hätten!«
Hester fröstelte. »Glauben Sie, jemand würde so etwas tun wollen?«
Er hörte den Zweifel in ihrer Stimme. »Sie sind eine nette Dame, anständig erzogen. Sie gehören nicht hierher«, sagte er freundlich. Er sah sich in dem großen Raum mit den Eisenbetten, den gemauerten Spülsteinen am anderen Ende und den Krügen und Eimern mit Wasser um. »Klar, wenn's draufankommt. So kann's ja nicht mehr lange weitergehen. Richtig und Falsch bekommt 'nen anderen Anstrich, wenn man 'ne Weile hungrig gewesen ist oder in einer Türöffnung geschlafen hat. Ich hab's gesehen. Es verändert die Menschen, und wer wollte ihnen was vorwerfen?«
Sie überlegte, ob sie ihm von Squeaky Robinson und seinem Etablissement der besonderen Art erzählen sollte, das offensichtlich irgendwo in der Nähe der Brauerei Reid's an oder in der Portpool Lane lag. Sie hörte ihm nur halb zu, während sie darüber nachdachte.
»Aber sicher«, stimmte sie ihm geistesabwesend zu. Wenn sie es Hart erzählte, würde er sich verpflichtet fühlen, es seinen Vorgesetzten zu berichten, und sie würden hineinstolpern und Robinson womöglich warnen, ohne irgendetwas über Baltimore zu erfahren. Robinson würde es abstreiten wie alle anderen. Wahrscheinlich hatte er das längst getan.
»So sicher bin ich mir gar nicht, dass wir die Wahrheit herausfinden möchten«, fuhr Hart düster fort. »Wenn man bedenkt, was wohl dabei rauskommt.«
Jetzt wurde sie aufmerksam. »Nicht herausfinden?«, sagte sie. »Sie meinen, sie bleiben einfach, so lange sie lustig sind, und sagen dann, sie geben auf? Sie können die halbe Polizei von London ja nicht ewig in Coldbath abstellen.«
»Höchstens noch ein paar Wochen«, stimmte er ihr zu. »Letztendlich wäre es einfacher.«
»Einfacher für wen?« Ohne ihn zu fragen, schenkte sie ihm noch Tee ein, und er dankte ihr mit einem Nicken.
»Für die, die ihr Vergnügen in den Häusern hier suchen«, meinte er. »Aber in erster Linie für diejenigen, die bei der Polizei das Sagen haben.« Er schnitt eine Grimasse und schüttelte leicht den Kopf. »Möchten Sie der Familie Baltimore erzählen müssen, dass Mr. Baltimore herkam, um sich zu befriedigen und sich am Ende womöglich weigerte zu bezahlen, was er schuldig war, und deswegen irgendwo in einer Gasse Streit mit einem Zuhälter bekam? Aber der Zuhälter hat die Oberhand gewonnen und ihn umgebracht. Vielleicht wollte er es nicht mal, aber als es passiert war, war's zu spät, und dann hat er die eine oder andere alte Rechnung beglichen, indem er den Toten bei Abel Smith abgeladen hat?«
Sie kniff die Lippen zusammen und runzelte die Stirn.
»Wir wissen, dass es so gewesen sein kann«, fuhr er fort. »Aber wissen und sagen sind zwei verschiedene Dinge. Und dafür zu sorgen, dass
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