Tod eines Fremden
andere Leute es erfahren, ist noch mal was völlig anderes! Einiges sagt man besser nicht laut.«
Damit war ihr Entschluss gefasst. Wenn die Wahrheit die war, die Hester fürchtete – wenn der Mord an Baltimore aus persönlicher Rache geschehen war, entweder weil er sich als Kunde einer Prostituierten schlecht benommen hatte oder weil er in den Eisenbahnbetrug verwickelt war, den er oder ein anderes Familienmitglied angezettelt hatte –, dann wäre die Polizei auf keine dieser beiden Antworten erpicht.
»Sie haben Recht«, stimmte sie ihm zu. »Möchten Sie noch etwas Toast mit Marmelade?«
»Das ist sehr höflich von Ihnen, Miss«, dankte er ihr und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ach ja, warum nicht?«
Hester wusste, dass sie eine Ausrede brauchte, um Squeaky Robinson einen Besuch abzustatten. Kurz nachdem Hart gegangen war, kam Margaret, und die beiden kümmerten sich erst einmal um Fanny und Alice, die sich allmählich erholten. Als der Nachmittag dahinschwand und die Luft deutlich kühler wurde, holte Hester mehr Kohlen für den Kamin herein und überlegte, ob sie Margaret nach Hause schicken sollte. Die Straßen waren ruhig, und Bessie würde die ganze Nacht da sein.
Margaret saß am Tisch und schaute unglücklich auf den Medizinschrank, den sie vor kurzem wieder aufgefüllt hatte.
»Ich habe noch einmal mit Jessop gesprochen«, sagte sie mit angespannter Miene. Die Verachtung ließ die Linien ihres Mundes hart werden. »Als ich ein Kind war, hat meine Gouvernante mir immer gesagt, eine gute Frau sehe in jedem Menschen nur die guten Seiten.« Sie zuckte bedauernd die Achseln. »Ich habe ihr geglaubt, vermutlich, weil ich sie wirklich gern hatte. Die meisten Mädchen rebellieren gegen ihre Lehrer, aber sie war so nett und witzig. Sie hat mir alles Mögliche beigebracht, was nicht von praktischem Nutzen, aber einfach interessant war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals irgendwo Deutsch sprechen muss. Und sie ließ mich auf Bäume klettern und Äpfel und Pflaumen pflücken – solange ich ihr welche abgab. Sie liebte Pflaumen!«
Hester hatte ein Bild vor Augen, wie die junge Margaret, das Haar zu Zöpfen geflochten, in einem fremden Obstgarten gegen das Verbot ihrer Eltern auf einen Apfelbaum kletterte, ermutigt von einer jungen Frau, die ihre Stellung aufs Spiel setzte, um einem Kind eine Freude zu machen und ihr ein kleines verbotenes, aber weitgehend harmloses Vergnügen zu bereiten. Sie lächelte. Es war ein anderes Leben, eine ganz andere Welt als diese hier, wo Kinder stahlen, um zu überleben, und nicht wussten, was eine Gouvernante war. Nur wenige gingen, wenn überhaupt, in eine Armenschule. Geschweige denn, dass sie Privatunterricht erhielten oder in den Genuss von Lektionen über Moral kamen.
»Aber selbst eine Miss Walter hätte wohl nichts Gutes an Mr. Jessop finden können«, schloss Margaret. »Ich wünschte mir leidenschaftlich, wir hätten nicht ausgerechnet ihn als Vermieter.«
»Ich auch«, meinte Hester. »Nur um ihn loszuwerden, suche ich schon die ganze Zeit nach etwas anderem, aber bislang habe ich noch nichts gefunden.«
Margaret wandte den Blick von Hester ab, über ihre Wangen zog sich eine leichte Röte. »Glauben Sie, Sir Oliver kann den Frauen, die bei dem Wucherer in der Kreide stehen, helfen?«, fragte sie vorsichtig.
Wieder empfand Hester die merkwürdige Beklommenheit einer Veränderung, einer ganz schwachen Einsamkeit, da Rathbone sie nicht mehr so verehrte wie früher. Sie waren immer noch in Freundschaft verbunden, und wenn sie sich nicht gerade danebenbenahm, würde das auch so bleiben. Mehr als Freundschaft hatte sie ihm nie geboten. Monk jedoch liebte sie. Und wenn sie auch nur ein kleines bisschen ehrlich war, dann hatte sie das schon immer getan. Liebe unter Freunden fühlte sich anders an, ruhiger und so viel sicherer. Diese Wärme verbrannte weder Fleisch noch Herz, doch entzündete sie auch nicht das Feuer, das alle Dunkelheit vertrieb.
Darum ging es doch. Wenn sie etwas für Rathbone oder Margaret empfand, und sie lagen ihr beide am Herzen, dann sollte sie sich für sie freuen, voller Hoffnung sein, dass sie kurz davor standen, die Art von Glück zu entdecken, die alle Kraft und alle Verpflichtung forderte, die man geben konnte.
Margaret schaute sie wartend an.
»Ich weiß, dass er sein Bestes tun wird«, sagte Hester. »Wenn etwas getan werden kann, dann wird er das tun.« Sie holte tief Luft. »Aber ganz unabhängig davon möchte ich vorher
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