Tod eines Fremden
das Schicksal nicht so gnädig zu ihr gewesen, war die Chance, dass man sie für eine Prostituierte hielt, ziemlich hoch. Aber keine hundert Meter von hier war sie erst an einem Wachtmeister vorbeigekommen. Sicher, er war nicht mehr in Sichtweite, aber seine Gegenwart reichte, solche Kunden abzuschrecken, die mehr als häufig hier verkehrten.
Sie lehnte sich an die Mauer der Brauerei, blieb von der Kante des schmalen Randsteins weg, wo das Licht der Straßenlaternen auf die nassen Pflastersteine schien. Mit dem Schultertuch auf dem Kopf, das den größten Teil ihres Gesichts verdeckte, sah sie nicht gerade aus, als wollte sie Aufmerksamkeit erregen. Die Gasse war mehrere hundert Meter lang und führte in die Gray's Inn Road, eine breite Straße, auf der bis weit nach Mitternacht Betrieb herrschte. Gleich um die Ecke lag das Rathaus. Squeaky Robinson hatte sein Haus wahrscheinlich eher in einer der düsteren Gassen an diesem Ende, hier gegenüber der Brauerei. Sicher liebten seine Kunden es so diskret wie möglich.
Ob sich Männer mit bestimmten Neigungen wohl schämten? Sicher wollten sie es vor der Allgemeinheit geheim halten, aber auch voreinander? Würden sie hierher kommen, auch wenn ihresgleichen es wüsste? Sie hatte keine Ahnung, aber vielleicht sollte ein solches Haus klugerweise mit mehr als einem Eingang ausgestattet sein – vielleicht sogar mit mehr als zwei Türen? Eignen würden sich für Hinterausgänge die gegenüberliegenden Gassen, nicht am anderen Ende, wo sich ein großes vornehmes Gebäude und ein Hotel befanden, sondern hier.
Jetzt, da sie sich entschieden hatte, hatte es keinen Sinn, länger zu warten. Sie richtete sich auf, atmete tief ein, ohne an den süßlich, modrigen Geruch zu denken, und wünschte sich, sie wäre nicht so gedankenlos gewesen, denn sie musste husten und keuchen, wobei sie noch mehr einatmete. Sie sollte nie vergessen, wo sie war, keinen einzigen Augenblick! Ihre Unaufmerksamkeit verfluchend, überquerte sie die Straße und ging flott die erste Gasse rechts hinauf bis zum Ende, wo das Gebäude liegen musste, von dem aus man Zugang zu beiden Gassen und auf die schmale Straße auf der anderen Seite hatte.
Die Gasse war eng, aber weniger verdreckt, als sie erwartet hatte, und an einer Wandkonsole den halben Weg hinunter hing eine Lampe, die den Weg über die unebenen Steine beleuchtete. War es Zufall, oder kümmerte Squeaky Robinson sich um die Empfindlichkeiten seiner Kunden, indem er dafür sorgte, dass sie auf dem Weg zu ihrem Vergnügen nicht über Abfall stolperten?
Sie kam ans Ende der Gasse, und am Rand des Lampenscheins sah sie Stufen und eine Türöffnung. Sie hatte sich bereits zurechtgelegt, was sie sagen würde, und es gab keinen Grund zu zögern. Sie trat an die Tür und klopfte.
Diese wurde augenblicklich von einem Mann geöffnet. Er trug einen dunklen Anzug, der an den Rändern abgetragen und ihm trotz seiner durchschnittlichen Größe zu groß war. So wie er dastand, war er bei Bedarf jederzeit zu einem Kampf bereit. Er sah aus wie ein Raufbold, der einen heruntergekommenen Butler nachäffte. Vielleicht gehörte das zum Image des Etablissements. Er betrachtete sie ohne Interesse. »Ja, Miss?«
Sie sah ihm direkt in die Augen, denn sie wollte nicht für eine in Not geratene Bittstellerin gehalten werden, die im Bordell unterkommen wollte, um ihre Schulden zu begleichen.
»Guten Abend«, antwortete sie förmlich. »Ich würde gerne mit dem Besitzer sprechen. Ich glaube, einem Mr. Robinson? Wir haben vielleicht gemeinsame Geschäftsinteressen, bei denen wir einander von Nutzen sein könnten. Wären Sie so freundlich, ihm zu sagen, dass Mrs. Monk vom Coldbath Square ihn sprechen möchte?« Sie sagte es in dem Befehlston, den sie früher in ihrem alten Leben, vor ihrem Krim-Aufenthalt, gegenüber Dienstboten angeschlagen hatte, wenn sie die Tochter eines Freundes ihres Vaters besuchte.
Der Mann zögerte. Er war es gewöhnt, der Kundschaft zu gehorchen – das gehörte zum Geschäft –, aber Frauen waren »Inventar«, und als solche sollten sie tun, was man ihnen sagte.
Sie sah ihm weiterhin fest in die Augen.
»Verstehe«, räumte er ungnädig ein. »Sie kommen wohl besser rein.« Beinahe hätte er noch etwas hinzugefügt, doch im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und führte sie den Gang hinunter in ein sehr kleines Zimmer, das kaum mehr war als ein großer Schrank, in dem ein Stuhl stand. »Warten Sie hier«, sagte er, ging hinaus und
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