Tod eines Fremden
konnte, spielte es kaum eine Rolle, warum oder wohin er verschwunden war. Vielleicht war seine Angst der Grund dafür, dass er gewalttätig geworden war und Fanny und Alice entweder selbst halb zu Tode geprügelt oder, was wahrscheinlicher war, jemanden wie den Möchtegernbutler damit beauftragt hatte. Aber seine Tage waren gezählt. Es würden keine Frauen mehr umgarnt werden, und wenn der Wucherer weg war, konnte er die Rückzahlung nicht mehr erzwingen, jedenfalls kaum vor einem Gericht? Am Ende konnte Oliver Rathbone wahrscheinlich doch helfen!
Als sie zum Coldbath Square zurückkam, fand sie Margaret im Raum auf und ab gehend und auf sie wartend. Sobald Hester durch die Tür trat, erhellte sich ihr Gesicht.
»Ich bin so erleichtert, Sie zu sehen!«, sagte sie und stürzte sich auf sie. »Alles in Ordnung?«
Hester strahlte vor Freude. Sie hatte Margaret wirklich sehr gern. »Ja, danke. Mir ist nur kalt«, antwortete sie freiheraus. »Eine Tasse Tee wäre jetzt wunderbar, um den Geschmack von diesem Haus von der Zunge zu kriegen.« Sie legte ihr Umschlagtuch ab und hängte es an einen Haken, während Margaret schon zum Ofen eilte.
»Was haben Sie rausgekriegt?«, fragte Margaret, während sie noch überprüfte, ob der Kessel voll war, und ihn auf die Kochstelle schob. Sie wandte den Blick nicht von Hester ab, und ihr Gesicht war gespannt, die Augen groß und glänzend.
»Ich glaube, die Frauen bei Abel Smith haben mir die Wahrheit erzählt«, antwortete Hester, während sie zwei Becher aus dem Schrank holte. »Es ist das Haus, wo sie sich um ›individuellere Bedürfnisse‹ kümmern.« Sie benutzte diese Umschreibung mit heftiger Abscheu und sah ihre eigenen Gefühle in Margarets Miene widergespiegelt. »Ich habe Squeaky Robinson getroffen …«
»Wie war er?« Margaret tat nicht einmal mehr so, als achte sie auf den Kessel. Ihre Stimme war schrill vor Erwartung.
»Sehr nervös«, antwortete Hester knapp. »Ich würde sogar sagen, absolut verängstigt.« Sie stellte die Becher auf den Tisch.
Margaret war erstaunt. »Warum? Glauben Sie, Baltimore wurde dort umgebracht?«
Der Gedanke an Squeaky Robinsons Partner und die Möglichkeit, dass er für immer verschwunden war und infolgedessen das Wucherergeschäft zusammenbrach, hatte Hester so beschäftigt, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, Squeaky könnte sich weniger vor dem finanziellen Ruin fürchten als vor der Polizei. Aber der Strick war eine unendlich viel schlimmere Perspektive als Armut, selbst für den habgierigsten Mann der Welt.
»Das wäre möglich«, sagte sie ein wenig zögerlich und erklärte, was sie sich erhoffte.
»Vielleicht hat der Wucherer ihn umgebracht?«, meinte Margaret, auch wenn ihr anzusehen war, dass sie das eher wünschte, als wirklich glaubte. »Vielleicht konnte er nicht zahlen, und dem Wucherer sind die Nerven durchgegangen. Es kann auch ein Unfall gewesen sein. Schließlich liegt es nicht in ihrem Interesse, einen Kunden umzubringen, oder? Das kann doch nicht gut sein fürs Geschäft. Es ist ja nicht so, als müsste man unbedingt dorthin gehen. Es gibt jede Menge andere Orte, auch in anderen Stadtteilen.«
»Und genau wie er gesagt hat, haben sie die Leiche in Abel Smiths Haus geschafft«, stimmte Hester ihr zu. »Ja, das klingt plausibel.« Sie konnte eine leichte Enttäuschung nicht verbergen. Hätte Baltimores Tod etwas mit dem Landbetrug bei der Eisenbahn zu tun gehabt, könnte auch Monk bei seinen Nachforschungen davon profitieren. Es hätte die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft und seinen Glauben, dass Arrol Dun-das unschuldig war, bestätigt. Allerdings hätte es auch Monks Schuldgefühl verstärkt, dass er das damals nicht hatte beweisen können.
»Sollen wir das Constable Hart erzählen?«, fragte Margaret hoffnungsvoll. »Das würde helfen, den Mord aufzuklären, und die Polizei würde verschwinden.« Hinter ihr fing der Kessel an zu pfeifen. »Und wir würden gleichzeitig die treibende Kraft hinter dem Wucherer loswerden!« Sie drehte sich zu dem Kessel um und schwenkte die Teekanne aus, dann tat sie Teeblätter hinein und goss kochendes Wasser auf.
»Noch nicht«, sage Hester vorsichtig. »Erst würde ich noch gerne ein bisschen mehr über Mr. Baltimore erfahren, Sie nicht?«
»Doch. Aber wie?« Margaret trug die Teekanne zum Tisch hinüber und stellte sie neben die Milch und die Becher. »Kann ich helfen? Ich könnte mich bei jemandem anbiedern und Fragen stellen … Oder lieber Sie?
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