Tod eines Lehrers
kannte.
Ein großgewachsener, asketisch wirkender Mann von undefinierbarem Alter, Brandt schätzte ihn auf zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig, trat vor. »Ich war mit ihm befreundet oder was man so Freundschaft nennt. Mein Name ist Frank Baumann, und ich unterrichte Religion und Kunst. Wir haben zwar des Öfteren heiße Diskussionen geführt, weil Herr Schirner nicht an Gott glaubte, sondern ein Existenzialist nach Sartre war, aber wir waren uns nie böse, im Gegenteil, er hat seinen Standpunkt vertreten und ich meinen, den er durchaus respektiert hat. Mit ihm zu diskutieren war jedes Mal ein Vergnügen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Wo waren Sie gestern so zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«
»Ich war zu Hause. Meine Frau und meine Schwiegermutter werden das bestätigen können, denn wir haben bis nach Mitternacht zusammengesessen und uns unterhalten.«
»Danke. Ich habe dann noch den Namen von Frau Anja Russler.«
»Das bin ich«, sagte eine junge Frau, die die Dreißig kaum überschritten zu haben schien. Sie war mittelgroß und zierlich, hatte kurze dunkelblonde Haare, grüne Augen und einen vollen Mund. Sie machte auf Brandt sofort einen angenehmen, sympathischenEindruck, und er ließ sich stets von diesem ersten Sekundeneindruck leiten und war bisher noch nie enttäuscht worden. »Ich unterrichte Sport, Englisch und Deutsch. Ich war gestern Abend ebenfalls zu Hause, habe aber leider keine Zeugen, weil ich momentan allein lebe. Ich bin um zehn zu Bett gegangen, habe noch gelesen und bin so gegen elf eingeschlafen.«
Brandt musste unwillkürlich lächeln und sagte: »War das Buch so langweilig?«
»Nein, das nicht, ich war nur müde«, erwiderte sie ebenfalls lächelnd, wobei sich zarte Grübchen um die Mundwinkel bildeten.
»Sie waren auch mit Herrn Schirner befreundet?«
»Nein, so kann man das nicht nennen. Es war im Prinzip nicht anders als bei Herrn Baumann. Wir haben uns einige Male gut unterhalten, es gab auch keine Reibungspunkte. Aber ich verstehe mich mit den meisten meiner Kollegen gut. Außerdem würde, wenn ich mit Herrn Schirner befreundet gewesen wäre, jeder doch gleich denken, dass …« Sie stockte und sah in die Runde. Ihr war ganz offensichtlich nicht wohl in diesem Moment, da alle Blicke auf sie gerichtet waren und jeder scheinbar danach gierte, etwas Sensationelles zu hören.
»Dass was?«, fragte Brandt.
»Wir waren nicht befreundet, zumindest nicht so, wie Sie vielleicht denken«, antwortete Anja Russler kurz angebunden, aber nicht unfreundlich.
Brandt spürte den Blick von Nicole Eberl, die sich offenbar ihre eigenen Gedanken machte. Auch er hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, das ihm sagte, dass die junge Frau einiges verschwieg oder zumindest im Kreis ihrer Kollegen nicht sagen wollte. Er wollte sie im Augenblick auch nicht weiter bedrängen, wodurch sie sich möglicherweise bloßgestellt fühlte, sondern sie entweder heute Abend noch oder morgen unter vier Augen befragen, was er auch mit Teichmann, Baumann, Frau Engler und Frau Denzel machen würde.
»Sie können gar nicht wissen, was ich denke, aber es ist ganzsicher nicht das, was Sie vermuten.« Er machte eine kurze Pause und sagte dann: »Frau Sabine Engler?«
Es schien, als hätte sie bereits darauf gewartet, aufgerufen zu werden. Brandt schätzte sie auf Anfang bis Mitte fünfzig. Sie war klein und ziemlich übergewichtig, was sie jedoch durch eine vorteilhafte Kleidung gut zu kaschieren verstand. Sie trat einen Schritt vor und sagte: »Ich war gestern Abend mit meinem Mann im Kino, wir sind um halb elf nach Hause gekommen. Ich habe noch gebadet und bin vor Mitternacht zu Bett gegangen. Wir sind mit Herrn Schirner und seiner Frau relativ gut befreundet, haben uns aber in der letzten Zeit nur selten privat gesehen, weil ich längere Zeit krank gewesen bin.«
»Frau Katharina Denzel?«
Eine etwa Mittdreißigerin mit halblangem braunem Haar trat hervor. Sie war über einssiebzig groß, schlank und sehr wohl proportioniert. Sie trug eine hellblaue Jeans, weiße Turnschuhe und eine blaue Bluse, eine herbe Schönheit, wie Brandt feststellte. Ihre Augen strahlten ein gewisses Feuer aus, auch wenn es in diesem Moment auf Sparflamme brannte. Eine Frau, der Männer bestimmt mehr als nur einen Blick hinterherwarfen.
»Sie wurden uns ebenfalls als gute Bekannte von Herrn Schirner genannt. Ist das richtig?«
»Ja«, antwortete sie. »Aber wie schon bei den andern befragten Kollegen war es
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