Tod eines Lehrers
sauer zu sein.«
»Wegen eben?«, fragte Carmen und lachte leise auf. »Sie wird kein Wort mehr darüber verlieren, denn das würde ja bedeuten, dass sie sich mit ein paar Wahrheiten auseinander setzen müsste, die sie nicht sehen will. Sie ist die drei Affen in einer Person – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Ich hab sie trotzdem lieb, schließlich ist sie meine Mutter. Ich geh jetzt besser wieder rein, mir frieren langsam die Pfoten ab.«
Brandt sah zum Haus und erkannte das Gesicht von Helga Schirner hinter dem Vorhang. »Eine Frage hätte ich doch noch. War die Ehe Ihrer Eltern so glücklich, wie Ihre Mutter das behauptet?«
Carmen zögerte mit der Antwort und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Glück ist immer eine Frage der Definition. Was ist Glück? Jeder betrachtet es aus seiner Sichtweise, und die ist sehr subjektiv. Schauen Sie sich meine Mutter an, sie ist glücklich in ihrer kleinen Welt. Sie tut niemandem etwas Böses, im Gegenteil. Ob mein Vater glücklich war? Ich will ganz ehrlich sein, er war es vielleicht bedingt. Aber Sie haben nach der Ehe gefragt –nein, das war alles nur Fassade. Ich weiß nicht, wann meine Mutter angefangen hat sich zu verändern, aber es muss irgendwann kurz nach Thomas’ Geburt gewesen sein. Von einem Eheleben konnte man bei meinen Eltern schon lange nicht mehr sprechen. Mein Vater ist oder besser gesagt war ein sehr intellektueller Mensch, während meine Mutter eher einfach gestrickt ist, obwohl sie Kunst studiert hat. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, warum sie sich so hängen lässt. Der Tod meines Vaters scheint sie nicht einmal sonderlich zu berühren. Sie hat zum Beispiel schon heute Morgen um sieben angefangen das Haus durchzusaugen. Und das wird sie auch heute Abend noch einmal machen, schließlich könnte selbst der kleinste Krümel die heile, saubere Welt verunreinigen. Verstehen Sie jetzt, warum ich so schnell wie möglich ausziehen wollte? Ich konnte ab dem Moment frei durchatmen, als ich hier wegkam. Wenn aber noch irgendwas sein sollte, dann rufen Sie mich bitte auf meinem Handy an. Haben Sie was zu schreiben?«
»Ich bin bereit«, sagte Brandt und tippte die Nummer gleich in sein Adressbuch des Handys ein. »Und jetzt rein mit Ihnen, sonst holen Sie sich noch was weg. Tschüs.«
»Tschüs.«
Wieder im Auto, sagte Brandt: »Gefällt mir, das Mädel. So jung, steht aber trotzdem schon mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Aber ihre Mutter … Mit der würde ich es keine zehn Minuten aushalten. Ich muss die Fenster putzen! Wer zum Teufel putzt bei der Kälte die Fenster?! Ich mach das zweimal im Jahr, aber die Schirner wahrscheinlich jeden Tag. Und zweimal am Tag saugen! Nicht mal meine Mutter würde auf so ’ne bekloppte Idee kommen.«
»Peter, die Schirner leidet vermutlich an einem Reinlichkeitswahn, das ist eine Persönlichkeitsstörung. Ihr ganzes Leben spielt sich in den eigenen vier Wänden ab. Dort sieht sie ihre Aufgabe und ihren Lebenssinn, dort kann sie schalten und walten, wie sie möchte, dort pfuscht ihr keiner ins Handwerk.«
»Aber sie hat studiert …«
»Und? Wie viele Studierte kennst du, die nicht ganz richtig ticken? Ich eine ganze Menge. Und die Schirner ist noch harmlos. Ich könnte mir vorstellen, sie verlässt das Haus nur, um einzukaufen. Die Wohnung ist fast so steril wie in einem Operationssaal. Das sagt doch alles über sie aus. Und solche Frauen sind auch sexuell alles andere als aktiv. Für sie ist das wahrscheinlich auch mit Schmutz verbunden, deshalb die getrennten Schlafzimmer. Die hat ihren Mann mit Sicherheit schon seit Jahren nicht mehr rangelassen.«
»Heißt das, du vermutest, dass Schirner was nebenbei laufen gehabt hat?«
»Ich habe die Frau heute zum ersten Mal gesehen, aber ich halte es für durchaus möglich. Die lebt in ihrer kleinen Welt, wie die Tochter so schön gesagt hat, und hat panische Angst davor, sie zu verlassen. Der Tod ihres Mannes schockt sie nicht sonderlich, sie kann ja in dem Haus bleiben. Da wird auch nie wieder ein anderer Mann einziehen.«
»Aber sie sagt doch, er war immer zu Hause.«
»Glaubst du ihr etwa alles? Diese Frau will oder muss ihre heile Welt bewahren, auch jetzt. Ihre Putzwut ist zwanghaft und alles andere, was mit ihrem Leben zu tun hat, vermutlich auch. Nur nicht den Namen und guten Ruf ihres Mannes beschmutzen, dafür würde sie auch lügen. Denn wenn zum Beispiel die Nachbarn erfahren sollten, dass er eine andere hatte, würde ihre heile Welt wie
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