Tod im Apotherkerhaus
lassen. An einer Kante konnte ich sitzen und arbeiten, während an den anderen sieben Kanten jeweils ein aufgeschlagenes Buch bereitlag. Ich brauchte den Tisch nur wie ein Karussell zu drehen, um bequem die anderen Werke vor Augen zu bekommen. Allerdings hatte der Karusselltisch einen entscheidenden Nachteil: Er brauchte in der Fläche sehr viel Platz, und wie du siehst, ist die Kammer sehr klein. Ich entschied mich deshalb für eine der berühmten Lesemaschinen von Ramelli, bei denen die Bücher auf den einzelnen >Schaufeln< liegen. Der Studierende kann sich davorsetzen und an der Maschine -wie an einer Schwungscheibe drehen.«
Rapp demonstrierte es. Nacheinander rückten schwere, aufgeschlagene Bücher in sein Blickfeld, wobei ein kompliziertes Zahnradgetriebe dafür sorgte, dass sie trotz des Umlaufs stets auf dem Rücken liegen blieben. Auf einem Beistelltischchen lagen Feder und Papier für Notizen bereit. »Oh, Teo, lass mich auch mal da sitzen.« Mine nahm mit einer anmutigen Bewegung Platz und gab der Maschine einen Stoß. Die Folianten wanderten weiter. »Das ist wirklich gut«, sagte sie nach einer Weile, »der Apparat spart bestimmt viel Lauferei und Blätterei. Was ist denn das da für ein dickes Buch, das ist anders, das hat ja ein richtiges Schloss, damit man's abschließen kann.«
»Ja«, sagte Rapp, »es ist ein ganz besonderes Werk. Der Verfasser war sich wohl bewusst, dass es — vorausgesetzt, es gelangt in falsche Hände - sehr gefährlich sein kann wegen der vielen Giftpflanzen, die darin aufgeführt sind. Andererseits mag es
von großem Segen sein, wenn man die Anweisungen strikt befolgt. Es kommt eben wie bei allem auf die richtige Dosis an.« »Das Buch sieht mächtig alt aus.«
»Ist es auch. Sieh mal, was hier auf den ersten Seiten steht. Soll ich es dir vorlesen?«
»Ich kann selbst lesen. Vater hat's mir beigebracht. Aber es ist lang her, und ich bin nicht so in Übung.« »Dann lass mich das machen:
... dieses Werk ist darum das Werk von vielen. Eines, welches die wichtigsten Entdeckungen der Wissenden in einem gesammelten medizinischen Komplex erfasst, auf dass es dem Arzte Rat gehe, dem Studierenden zur Verfügung stehe und dem Kranken Linderung bringe. De morbis hominorum et gradibus ad sanationem ist ein mehrgeteilt Werk, gegliedert in die Lehre von den Kräutern als Quelle aller Heilkraft, gefolgt von der Lehre über die Pharmakologie und den Kapiteln zur Wundchirurgie und Geburtshilfe...
Unterschrieben hat den Einleitungstext ein gewisser Pater Thomas, der auch Herausgeber des Kompendiums ist. Er hat es in einem spanischen Zisterzienserkloster namens Campodios geschaffen, und zwar im Jahre 1575. Das Werk ist also über hundertvierzig Jahre alt. Aber die Beiträge darin sind viel älter. Alle bekannten Ärzte der Antike sind in ihm vertreten: Susruta, Hippokrates, Aristoteles, Galenos, Dioskurides, Soranos, um nur einige zu nennen. Und dann natürlich der dir schon bekannte Paracelsus.«
Mines Stimme bekam etwas Ehrfürchtiges: »Und wie heißt das Buch nun?«
» Über die Krankheiten der Menschen und die Schritte zur Heilung » . Manchmal frage ich mich, wem es wohl einst gehört haben mag, aber das wird wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben. Eines aber weiß ich genau: Neben den vielen anderen Werken, die ich über Arzneikunde besitze, ist es mir das Liebste ... Sag, hörst du das auch?« »Was?« Mine lauschte ebenfalls.
Von unten drangen Gesprächsfetzen herauf. Isis Stimme, hell und klar, war zu vernehmen, unterbrochen von einer dunkleren, die wie ein Wasserfall rauschte. Rapp ging zur Treppe und konnte nun Worte unterscheiden: »Isi-was-machst-du-hier-mein-Gott-mein-Gott?« »Nichts. Ich sitz hier. Siehst du doch, Mutter.« »Ja-das-seh-ich-das-seh-ich-du-solltest-zu-Hause-sein-und-lernen-lernen-ja-das-solltest-du!«
»Hab meine Hausaufgaben längst gemacht, Mutter.« Der Tonfall, in dem Isi das sagte, klang verdrießlich. »Plagt dich mal wieder ein Zipperlein?«
»Sei-nur-froh-dass-du-die-Schmerzen-nicht-hast-oooh-die-schrecklichen-Schmerzen!«
Rapp war unterdessen die Treppe hinuntergestiegen, nachdem er Mine bedeutet hatte, sie möge oben bleiben. In der Offizin bot sich ihm ein Bild, wie es fremdartiger nicht sein konnte: auf der einen Seite die Witwe Kruse, Hände ringend, hektisch, aufgelöst; auf der anderen Seite Isi, kühl, unbeteiligt, verschlossen. Hatte Isi zu der Frau mit den dauernden Leiden wirklich »Mutter« gesagt? »Kann ich helfen, wo plagt der
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