Tod im Apotherkerhaus
fühlte, gesellte sich ein gewaltiger Zorn dazu. Das ganze Ausmaß seiner Situation war ihm klar geworden. Man hatte ihn nicht nur hinterrücks niedergestreckt, sondern auch seiner Kleider beraubt und damit der Lächerlichkeit preisgegeben. Eine Unverschämtheit! Und als wäre das noch nicht genug, hatte man ihn wie einen nassen Sack durch halb Hamburg geschleift. Hierher, wo man ihn abermals verhöhnte und verspottete. Diese Taten mussten gesühnt werden! Rapp trat von der Kaimauer zurück. Ein Ewerführer, der im Begriff war, abzulegen, schrie ihm etwas zu. Seine Stimme klang erbost. Wahrscheinlich, weil ein Teil von Rapps Mageninhalt auf seinem Boot gelandet war. »Kotz woanners hen, Dööskopp, de Haven is vull von Scheep!«
Rapp erriet, was der Schiffer meinte, und rief eine Entschuldigung. Es stimmte ja, was der Mann sagte. Ein wahrer Mastenwald beherrschte den Hamburger Hafen; er wuchs empor aus unzähligen Schiffen, die an Kais und Anlegern festgemacht hatten. An jedem Arbeitstag, den Gott werden ließ, sorgte ein Strom von Schauerleuten dafür, dass ihre dickbauchigen Leiber be- und entladen wurden. Säcke, Ballen, Fässer und tausend andere Gegenstände wechselten den Besitzer. Der Handel blühte - und Hamburg mit ihm.
Normalerweise liebte Rapp es, den Hafen zu betrachten, doch heute stand ihm der Sinn nicht danach. Er warf den immer noch lachenden Matrosen einen Blick zu, in dem seine ganze Verachtung lag, und ging davon. Ein kühler Kopf, das war es, worauf es nun ankam. Und ein Platz, an dem er ungestört nachdenken konnte. Wenig später entdeckte er im Schatten eines Speichers eine Rolle Tauwerk, auf der sich mehrere Möwen putzten. Rapp verscheuchte die Vögel und setzte sich. Wenn er es recht bedachte, rührte sein Zorn weniger vom Verlust seiner Kleider her als vielmehr von der Schmach, die ihm widerfahren war. Er wollte, dass die Halunken von gestern zur Rechenschaft gezogen wurden. Ja, das wollte er. Je eher, desto besser. Doch wessen Aufgabe war es, ihrer habhaft zu werden? Rapp bedauerte, so wenig über die Ordnungsorgane der Stadt zu wissen. Er war kein Hamburger und hatte sich mit derlei niemals näher beschäftigt. Es gab eine Söldnertruppe, das wusste er; dabei handelte es sich um ein Kontingent von Berufssoldaten, bestehend aus Infanteristen, Artilleristen und Dragonern. Ob eine dieser Abteilungen für ihn zuständig war? Oder sollte er lieber zur Bürgerwache gehen? Wohl kaum. Als Apotheker war er vom Dienst in dieser Wehr entbunden, und demzufolge kannte er auch keinen der führenden Offiziere. Überdies stand die Truppe im Ruf, zu oft und zu tief ins Glas zu schauen. Blieb
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neben den städtischen Bütteln nur noch die Nachtwache. Sie bestand aus einigen Dutzend Männern, die zu später Stunde durch Hamburgs Straßen streiften, weshalb sie vom Volk Eulen oder Üblen gerufen wurden.
Rapp zitterte. Die Kälte der vergangenen Nacht saß ihm noch immer in den Knochen und lähmte seinen Gedankenfluss. Also sprang er hoch, hüpfte auf der Stelle und schlug sich ein paarmal kräftig die Arme um die Schultern. Nach einer Weile begann das Blut in seinen Adern wieder zu zirkulieren. Er setzte sich erneut. Vielleicht würde es am besten sein, sich an die Nachtwache zu wenden, nicht zuletzt, weil sie es versäumt hatte, ihn vor dem Überfall zu schützen. Irgendein Verantwortlicher saß sicher im Rathaus, und das Rathaus befand sich nur ein paar hundert Schritte hinter seinem Apothekenhaus, und zu dem musste er sowieso. Rapp stand abermals auf - und setzte sich wieder hin.
Die Erinnerung hatte ihn eingeholt. Die ganze Erinnerung.
Zwei Menschen waren von ihm erschlagen worden! Gestern Nacht. Die Bilder des Kampfes und der am Boden liegenden Halunken standen ihm plötzlich so deutlich vor Augen, als hätte er beide eben erst getötet. Ja, es war geschehen, und niemand konnte sie wieder lebendig machen. Rapp schlug sich die Hände vors Gesicht. Unglaublich, was er da angerichtet hatte! Ein Gang zur Nachtwache verbot sich nun von selbst. Wenn er den Ordnungshütern von dem Überfall berichtete, würde es unumgänglich sein, auch seine Gräueltat zu schildern. Und wenn nicht, würde man so lange fragen und nachhaken, bis die ganze Wahrheit ans Licht gekommen war. Natürlich war es reine Notwehr gewesen, aber wer würde ihm das glauben? Rapp schauderte. Mit Mördern machte man kurzen Prozess in der Hansestadt; sie kamen an den Galgen, und das Volk schaute lüstern zu, wie die Schlinge sich um ihre
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