Tod im Herbst
nach ihm gesucht? Wo ist seine Mutter?«
»Vergessen Sie nicht, daß viele dieser jungen Rauschgiftsüchtigen hier in Florenz nicht von hier sind und nicht die Gewohnheit haben, ihren Eltern jede Woche einen Brief zu schreiben. Bestimmt wissen sie schon seit einiger Zei t nich t mehr , w o e r sic h aufhält , un d vermute n auc h gar nicht , da ß ih m etwa s zugestoße n sei n könnte.«
Al s de r Wachtmeiste r nich t reagierte , sagt e er : »Sin d Sie noc h da ? E s könnt e sic h u m eine n Auslände r handeln, wisse n Sie . Erinner n Si e sic h a n di e Jung s d a drauße n i n der Villa.. ?«
Doc h de r Wachtmeiste r bi ß nich t an . »Ic h werd e als erstes bei den Konsulaten nachfragen«, sagte er. »Gleich morge n früh.«
Der Hauptmann gab es auf und legte den Hörer auf die Gabel.
Der Wachtmeister hielt sein Wort. Am nächsten Morgen, die blasse Sonne war kaum über den Dächern erschienen, kletterte er in seinen kleinen Fiat und fuhr los. Es war die morgendliche Hauptverkehrszeit. Jedermann eilte zur Arbeit, und Gruppen lärmender Kinder blockierten die schmalen Gehsteige, bis das erste Klingelzeichen ertönte und alle auf den Schulhof eilten. Obwohl es tagsüber noch recht warm wurde, lag um diese Stunde ein kühler Nebel über der Stadt, und die meisten Menschen hatten ihre grünen Lodenmäntel angezogen. Endlich waren jetzt weniger Touristen auf den Straßen, die Cafés hatten die Stühle hereingeholt, und nachdem die Florentiner ihre Stad t wiede r i n Besit z genomme n hatten , wa r alle s schnel ler und lauter.
Da war doch etwas, dachte der Wachtmeister, während junge Leute auf ihren Mopeds vor seinem Auto hin und herflitzten, was er heute vormittag erledigen sollte. Seine Frau hatte ihn am Abend zuvor angerufen. Was es auch war, es mußte warten. Er stellte das Auto so nahe wie möglic h a m Britische n Konsula t ab , gin g au f de r belebten Uferstraße ein Stück zurück und stieg die helle Marmortreppe hinauf zum Hochparterre. Er blieb etwa fünfzehn Minuten und ging, ohne etwas erreicht zu haben, von dort um die Ecke zum Französischen Konsulat in der Via Tornabuoni . Jedesma l verlie f sei n Besuc h meh r ode r weni ger ähnlich. Zuerst führte man ihn immer zum Schwarzen Brett, an dem Fotos von vermißten Personen angebracht waren, von denen vermutet wurde, daß sie sich in Florenz aufhielten. Jedesmal mußte er erklären, daß ihm ein Foto nichts nützte, daß der Junge kein Gesicht mehr hatte.
Körpergröße, Haarfarbe und Alter – derlei Angaben würden ihm helfen. Man zeigte ihm zwei Jungen, die vor drei Jahren als Sechzehnjährige verschwunden waren. Der eine hatt e schwarze s Haa r un d de r ander e rotes . Wa s hatte n sie in ihren Ferien gemacht, in diesem Alter und ohne Fami lie ? D a ga b e s eine n Ehemann , de r währen d eine r Busreise verschwunden war. Seine Frau hatte ein Foto geschickt, da s ih n i n eine m Liegestuh l i n ihre m kleinen Vorstadtgärtc hen zeigte. Der Vormittag zog sich hin, und der Wachtmeister, der in dem milden Sonnenschein durch die Str a ßen stiefelte, begann sich zu fragen, ob es überall so war oder ob Italien das einzige Land war, das Flüchtlinge aus ganz Europa anlockte.
U m ei n Uh r wa r e r wiede r be i seine m Auto . E r stie g ein, schlug die Tür dreimal zu, denn das Schloß funktionierte nicht richtig, und fuhr im mittäglichen Verkehrsgewühl zum Revier zurück. Er war tief in Gedanken versunken. Als Lorenzini ihn mit einem »Ihre Frau hat angerufen...« empfing, murmelte er bloß: »Ich werde am Nachmittag zurückrufen« und ging in sein Quartier, um dort in Ruhe über alles nachzudenken.
Zwei Stunden später erschien er wieder, verkündete, daß er nochmal weg müsse, und fuhr davon, das Gesicht hinter der Sonnenbrille schwer und ausdruckslos.
E r wa r lang e unterwegs . Al s e r da s Revie r wiede r betrat, öffnete er automatisch die Tür des Bereitschaftsraums, um z u sehen , o b alle s i n Ordnun g war , sagt e abe r kei n Wor t zu den beiden Jungs, sah sie nur mit leerem Blick an und schloß dann wieder die Tür. In seinem Dienstzimmer setzte er sich langsam an seinen Schreibtisch und wartete einen Augenblick, die großen Hände auf den Knien. Er atmete schwer, als ginge es ihm nicht gut. Er schaute auf seine Uhr, es war fünf vor sechs. Dann sah er das Telefon an und streckte die Hand aus, doch anstatt zum Hörer zu greifen, schaltete er die Schreibtischlampe an, denn es dämmert e schon.
Nachdem er noch eine Weile so
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