Tod im Jungfernturm
nicht antun.
»Das tue ich vielleicht auch«, sagte er.
»Man sollte nicht von sich selbst auf andere schließen. Ein einziges Mal habe ich ernsthaft daran gedacht, dich zu verlassen. Erinnerst du dich? Das war, als ich das erste Mal deiner Mutter begegnet bin. Sie wollte sich vergewissern, daß ich ein ›gutes Mädchen‹ bin, das auch für ihren Sohn taugt. Die Fragen, die sie gestellt hat, stellen sie nicht mal bei der Sitte, das sage ich dir.«
»Das werde ich nicht vergessen, solange ich lebe. Du hattest es schon bis zum Bahnhof geschafft, ehe ich dich eingeholt habe.«
»Zum Glück hattest du ein Fahrrad, sonst hättest du sicher nach hundert Metern aufgegeben.«
»Ich hätte dich bis ans Ende der Welt verfolgt«, beteuerte Krister.
»… ich frage mich gerade, ob ich nicht doch ein klein wenig Sehnsucht nach dir habe.«
»Das war ungefähr, was ich hören wollte. Wenn die Kinder schlafen, geht man hier zu Hause herum und denkt nach, weißt du.«
»Ich weiß«, sagte Maria.
»Mama ist übrigens wieder gesund.«
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«
»Nein. Nachdem wir in der Notaufnahme, beim Herzspezialisten, beim Chirurgen und beim Orthopäden gewesen waren, wurde ein Termin mit der Sozialberaterin vereinbart. Man wollte besprechen, ob sie noch weiterhin zu Hause wohnen bleiben könnte, wo sie doch so hilfebedürftig war. Die Sozialberaterin fragte sich, wie um alles in der Welt Papa es schaffen sollte, sie zu Hause zu pflegen, und schlug vor, daß er vielleicht das Haus verkaufen und sich nach einer kleinen Wohnung umsehen solle. Und für Mama würde sich sogar ein Platz im Pflegeheim finden. Verstehst du?«
»Ich glaube, ich kann es erraten.«
»Meine Güte, was wurde sie wütend. Seit heute ist sie wieder zu Hause. Sie hat einen Leserbrief geschrieben, den Chef des Landessozialamtes angerufen und sich über die Inkompetenz der Sozialberaterin beschwert, hat die Fenster geputzt und ein komplettes Menü gekocht.«
»Kommt ihr dann her?«
»Sobald wir einen Platz auf der Fähre kriegen. Sie ist eine Woche im voraus ausgebucht. Aber wir kommen, sobald wir können, wenn du immer noch ein Zimmer mit mir teilen möchtest. Ich liebe dich nämlich, wußtest du das?«
»Ich glaube schon. Grüße deine Mutter und die Kinder von mir. Sind sie in der Nähe, damit ich mit ihnen sprechen kann?«
Gegen achtzehn Uhr schaltete Maria den Computer aus, nachdem sie im Intranet das Gesetz zur Straffreiheit studiert hatte. In dieser Zeit hatte ihr innerer Schweinehund einen hinterhältigen Angriff unternommen. Der Schreibtisch war nach drei Tüten Schokoladenbonbons voller Bonbonpapier, ganz entgegen ihrem Vorsatz, während der Ferien zehn Kilo abzunehmen. Warum war das nur so unmöglich?
Maria fuhr zum Krankenhaus, um Hartman abzulösen. Der Wind frischte auf, als sie aus dem Auto stieg. In der Tasche hatte sie eine große Tafel Schokolade und einen Roman, den sie hoffentlich lesen konnte, wenn Mona Jacobsson schlief und alles ruhig war. Sie redete sich ein, daß es leichter sei, wach zu bleiben, wenn man las. Sie wußte nicht, wie oft sie schon mit eben diesem Roman angefangen hatte. Es war schwer zu sagen, wovon er eigentlich handelte, wenn man ständig unterbrochen wurde. Die beneidenswerten Menschen in der idealisierten Welt des Films saßen so oft in der Abendsonne in einem Café und lasen Romane. Sie trugen Kostüme mit engem Rock und einen Hut, und sie winkten dem Kellner und bekamen eine dampfende Tasse Kaffee, winkten wieder und bekamen einen Kuchen oder einen Likör. Niemand störte sie beim Lesen. Warum war das in der Wirklichkeit nie so?
Maria schaute ins Schwesternzimmer der Infektionsstation und begrüßte alle. Es war Abendbrotzeit. Ein paar der Mädchen hatten schon auf dem grünen Dreisitzer Platz genommen. Die Balkontür stand offen und ließ die Abendsonne und die Geräusche eines Autos herein, das unten auf dem Parkplatz angelassen wurde. Maria bekam eine Tasse Kaffee und ein Brot angeboten. Auf dem kleinen Tablett konnte sie auch noch eine Tasse für Hartman, einen Doppeldecker mit Marmelade, Zwieback und eine Rolle Kekse mitnehmen.
»Gerade hat ein Mann angerufen und nach Mona Jacobsson gefragt. Sie hat ja keine Geheimhaltung verlangt, deshalb habe ich erzählt, daß sie hier auf Zimmer vier liegt«, sagte eine der Weißgekleideten, die gerade vom Empfang kam.
»Hat er seinen Namen genannt?« fragte Maria.
»Nein. Ich habe gefragt, von wem ich ihr Grüße ausrichten dürfe, aber
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