Tod im Jungfernturm
gebrochene Beine. Vega packte Maria fest am Arm, als Arne eine kleine Pause machte.
»Die Polizei war übrigens bei Folhammar und dieser Schauspielerin zu Hause. Sie haben einander so angeschrieen, daß die Nachbarn sich beschwert haben. Es wurden Möbel umgeworfen, und es gab richtig Lärm. Eine Baßstimme und eine kreischende Frauenstimme im Wechsel.«
»Ist das wahr?« fragte Maria ohne größere Begeisterung. Arne holte das nächste Magazin mit Dias hervor, und die Dunkelheit wurde wieder dichter.
»In den Sagen finden wir oft Erzählungen von Jungfrauen in Türmen, so auch in der Valdemarssage. Um nach Visby hineinzukommen, brauchte man einen Schlüssel zum Stadttor. Die Tochter von Nils Guldsmed, die sich in König Valdemar verliebt hatte, öffnete dem Dänen das Tor. Wer weiß, welche Versprechungen er ihr während der Schäferstündchen gemacht hatte. Und wie hätte sie einem Mann in kostbaren Kleidern mit feinen Manieren und gebildeter Sprache widerstehen können? Von Liebe verblendet verriet sie ihre Nächsten, und Valdemar konnte, nachdem er einen Teil der Mauer zwischen dem Südtor und dem Osttor eingerissen hatte, in kompletter Schlachtordnung einmarschieren. Er ließ auf den Marktplatz von Visby drei Brauereibottiche stellen, die mit Gold und Silber gefüllt werden mußten, andernfalls würde die Stadt niedergebrannt werden. Sogar die Kirchen wurden geplündert, und aus Sankt Nicolai stahl er die unschätzbar wertvollen Karfunkelsteine.«
»Was sind Karfunkelsteine?« fragte Trygvesson, der aus seinem Dämmerschlaf erwacht war. Arne Folhammar zuckte zusammen. Eine ganze Weile lang hatte er nur für sich geredet und sein Publikum völlig vergessen. Jetzt sah er aufgeschreckt über die kleine Schar, die sich an diesem sonnigen Sommertag versammelt hatte, um ihm zu lauschen. Einen Vortrag für fünf Personen zu halten, war eigentlich unter seiner Würde, aber so war es ja mit den meisten Dingen im Leben, es ging nur um die Grade der Erniedrigung.
»Karfunkel? Heute sagt man dazu Granat, aber damals nannte man alles, was rein und kostbar war, Karfunkel. Das war eine Art mittelalterliches Modewort.«
»Und was geschah mit Birgitta, der Tochter des Goldschmieds?« fragte Maria.
»Der Sage zufolge wurde sie in den Jungfernturm eingemauert. Haß und Zorn verfolgten sie bis in den Tod. Ein einsames junges Mädchen gegen einen rasenden Mob. Von ihrem Geliebten verlassen, erstickte sie langsam in der Dunkelheit. In stürmischen Nächten, wenn das Wasser unten an den Strand schlägt, kann man sie noch um Hilfe rufen hören, dann bittet sie um Gnade und Erbarmen, daß man sie aus dem feuchten Gefängnis befreien möge. Man kann jedoch mit Bestimmtheit sagen, daß dies nicht im Jungfernturm, dem kleinsten Turm der Stadtmauer, geschah. Dieser wurde nämlich erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts errichtet. Wahrscheinlicher ist, daß der Name von dem Branntweinmaß von 8,2 Zentilitern hergeleitet ist, das ›Jungfrau‹ genannt wird.«
»Und wissen Sie, was dann mit Folhammars Schauspielerin geschah?« Maria versuchte die Frage zu ignorieren, aber das hinderte Vega nicht daran weiterzusprechen. »Die Schauspielerin schrie, als hätte ihr einer ein Messer in den Hals gerammt. Die Nachbarn hatten sich im Treppenhaus versammelt. Als die Polizei die Tür aufbrach, verstummte sie. Hatte es eine Schlägerei gegeben? Keineswegs! Folhammar war nicht mal zu Hause. Sie spielte nur unterschiedliche Rollen in einem Drama von Shakespeare. Ich glaube, es war Othello. Sie übte vor einer Vorstellung in der Klosterruine von Roma, wissen Sie. Also, das wird jedenfalls behauptet.«
»Jetzt sei aber mal still!« zischte Hartman. Trotz der Dunkelheit konnte Maria sehen, daß er rot geworden war. Vega lächelte bloß. Ich weiß, was ich weiß, sagte ihre Miene.
»Nachdem Valdemar Atterdag dänische Vögte eingesetzt hatte, deren Tage in der Gesellschaft der Gotländer jedoch gezählt waren, segelte er in Richtung Dänemark. Direkt vor den Karlsinseln sank das Schiff zusammen mit dem Schatz auf den Meeresgrund. Valdemar konnte sich retten, doch die Kostbarkeiten, die er in Visby und im Süden Gotlands geraubt hatte, kamen nie wieder zum Vorschein. Das hat die Phantasie der Menschen seit jeher gefesselt. Wo hat er die Beute aus Visby versteckt, während er seinen Raubzug nach Süd-Gotland unternahm? Warum hat man vor den Karlsinseln keinen Schatz gefunden? Sank das Schiff wirklich, und wenn nicht, warum hat man dann nicht Teile des
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