Tod im Jungfernturm
Vega stieß Maria wieder in die Seite und nickte bedeutungsvoll. »So sind sie.«
»Die Männer oder die Dänen?« fragte Hartman belustigt.
Kommissar Trygvesson lehnte sich zurück und schloß die Augen. Maria fand, es sah aus, als würde er schlafen.
»Aber nun lassen Sie uns die Sache mit der Plünderung mal von vorn aufrollen. Dieses Ereignis, vielleicht das am häufigsten erwähnte in der Geschichte Gotlands, geschah zur Zeit der Hanse, als Visby eine reiche, mächtige und international bedeutsame Handelsstadt war. Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Valdemarssage in der Gotländischen Chronik von H. N. Strelow, der ›Cronica Guthilandorum‹, niedergeschrieben. Es ist nicht alles wahr, was in den Sagen steht, aber sie sind es dennoch durchaus wert, erzählt zu werden. Im Laufe der Jahre sind sie auf ihrer Wanderung von Mund zu Mund noch gewürzt worden, so daß sie so gehaltvoll wurden, wie wir sie heute kennen.«
Arne Folhammar lockerte den Schlips ein wenig. Seine Augen strahlten vor Erzählfreude. »Am ersten Mai 1361 warnt König Magnus die Bürger in Visby vor den Expansionsplänen von Valdemar Atterdag. Die Beziehungen zwischen Schweden und Dänemark sind ein wenig angespannt, seit König Valdemar im vorangegangenen Jahr die südschwedischen Länder Skåne und Blekinge annektiert hat. Jetzt blickt der dänische König gierig auf das wohlhabende Visby. Gotland hatte in jener Zeit seinen eigenen Judas, nämlich Nils Guldsmed, der König Valdemar aufsuchte und ihm vom maßlosen Reichtum Visbys berichtete. Damit rächte er sich dafür, daß die Bewohner von Visby seine schöne und hochmütige Tochter Birgitta gekränkt hatten.«
»Man sagt, Folhammar habe mit einer Schauspielerin vom Festland zusammengelebt, die gut und gerne seine Mutter hätte sein können«, flüsterte Vega und nickte in dessen Richtung.
Hartman warf ihr einen verärgerten Blick zu, den sie lässig übersah. Hier gab es Dinge zu erzählen. Arne Folhammar zeigte das nächste Dia und erhob die Stimme, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
»Als Kaufmann verkleidet begab sich König Valdemar auf die Insel, um sich alles anzuschauen. Auf dem Unghanse-Hof im Süden Gotlands gewährte man ihm ein Dach über dem Kopf. Doch nicht nur das. Unghanse hatte eine Tochter, und Valdemar nahm sich, was er haben wollte, da er wie gesagt unheilbar versessen auf Frauen war. Es gab eine Liebesaffäre.«
»Liebesaffären hat er selbst auch genug gehabt, der Folhammar, das ist, als würde er von sich erzählen«, murmelte Vega, ohne Hartman anzusehen.
»Am 22. Juli 1361 kehrte Valdemar Atterdag mit seiner Flotte an die Westküste Gotlands zurück, nachdem er im Vorübergehen noch auf Öland ein Bauernheer abgeschlachtet hatte. Es gibt auch Berichte, die sagen, er sei am Fischereianleger von Kronvall in Eksta an Land gegangen, doch finde ich das weniger glaubwürdig, da es dort keinen Hafen gab. Nach der Landnahme stießen die Dänen nach Visby vor. Der erste Kampf, in dem sechshundert Gotländer fielen, fand bei der Brücke von Ejmund und im Moor von Fjäle statt, das in jenem Sommer ausgetrocknet war. Die großen Verluste wurden mit Zauberei erklärt, denn es war die gängige Ansicht, daß Unglück und Krankheit von übernatürlichen Wesen verursacht wurden. Wenn man heute ein medizinisches Gutachten einholen wollte, um zu beweisen, daß ein zauberkundiger Nachbar einen mit Blindheit oder plötzlicher Lähmung geschlagen hat, dann würde das schon eine gewisse Verwunderung hervorrufen. Doch nicht zu Valdemars Zeiten, ganz im Gegenteil. Es mußte sich niemand für seine Niederlage schämen, wenn man sie auf Zauberkunst zurückführen konnte, denn König Valdemar stand offensichtlich im Verband mit den schwarzen Mächten.«
Der Denkmalpfleger zeigte das nächste Bild. Ein Totenschädel mit Pfeilspitzen im Hinterkopf.
»Drei Tage nach Sankt Jacobi trifft Valdemars gut ausgerüstete Armee beim Kloster Solberga außerhalb der Stadtmauer auf ein Aufgebot an Bauern. Die gotländische Armee besteht zum großen Teil aus alten Männern, Invaliden und Jungen, die erbarmungslos abgeschlachtet und dann eilig in einem Massengrab verscharrt werden. Und, wenn man der Sage Glauben schenken will, geschah das alles unter den Augen der Bürger von Visby, die das Schauspiel von der Stadtmauer aus verfolgen, ohne einzugreifen.«
Eine schnelle Folge von Bildern zeigte ihnen auf der weißen Leinwand verkrüppelte Körper, durchbohrte Helme und
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