Tod im Jungfernturm
Christoffer bekommen hatte. Im Hintergrund Norrgatts Konditorei, dort waren sie gewesen und hatten zur Feier seines Geburtstages Bananentorte gegessen, eine schokoladenbestäubte Marzipantorte mit Bananen. Er hatte das Lied in der Musikbox aussuchen dürfen. Das war Luxus und Verwöhnung gewesen, wie er es nicht gewohnt war. Doch am stärksten erinnerte er sich an das Gefühl einer unausgesprochenen Bedrohung und an den Geschmack von Tränen. Monas verzweifeltes Gesicht, das flüchtige Lächeln, das schon abstarb, ehe es richtig an seinem Platz angekommen war.
Hinter ihm stand die Frau vom Jugendamt, ihr Schatten fiel über Monas Bein. Mona war gerade im Begriff, die Hände vors Gesicht zu schlagen. Er wußte, wie wenig sie es mochte, fotografiert zu werden, nicht mal von ihm. Er hatte eine Instamatic-Kamera benutzt, seine erste, die er von Großvater Anselm bekommen hatte. Die hatte drei Einstellungen: ganzer Mann, halber Mann und Berg. Mona war mit »ganzer Mann« fotografiert. Sie trug hochhackige Schuhe. Obwohl das Foto schwarzweiß war, erinnerte er sich daran, daß sie rot gewesen waren. Der Rock war ebenfalls rot gewesen, und die Bluse weiß mit vielen kleinen Knöpfen. Aber das sah man ja auf dem Foto. Das Kind in ihm haßte sie und sehnte sich immer noch nach ihr. Aber der erwachsene Mann hatte dem fünfzehnjährigen jungen Mädchen verziehen, das einen Sohn bekommen hatte, den es nicht versorgen konnte.
Was er allerdings nicht vergessen konnte, war, daß sie nicht um ihn gekämpft hatte, als er in der Pflegefamilie so schlecht behandelt worden war. Aber wie hätte sie auch beweisen können, was sie nur intuitiv spürte? Wie hätte sie das wagen können? Ein neuer Prozeß hätte nur dazu geführt, daß sie auch die Zwillinge verloren hätte. Wie viele Mütter waren nicht in den Zeiten des Urschreis auf dem Scheiterhaufen der Psychotherapie geopfert worden.
Vielleicht hatte er sich das alles selbst zuzuschreiben, vielleicht auch nicht. Die Art und Weise, in der seine Pflegemutter Cecilia ihn ausnutzte, war so ausgeklügelt gewesen, daß er es selbst nicht hatte benennen können und es auch heute kaum konnte. Sie hatten ihn als Pflegekind aufgenommen, und er war ein Auswuchs ihrer Güte geworden. Je schlechter er sich verhielt, desto heller leuchtete der Stern ihrer Selbstlosigkeit. Je komischer er sich benahm, desto interessanter wurden ihre Vertraulichkeiten gegenüber allen und jedem, der zuhören wollte. Aber eigentlich hatte Cecilia ja einen Boxer gewollt, so wie ihre Freundin im Hundeverein. Mit einem Welpen wäre es genausogut gewesen. Jetzt erst konnte er darüber lächeln.
»Jetzt sieh ihn doch mal an, wie seltsam er sich benimmt, wenn er mit anderen Kindern zusammen ist. Man kann nur vermuten, was er alles hat erleiden müssen. Er war total schmutzig und verängstigt, als er zu uns kam. Und wie er ißt, von richtig gekochtem Essen kann er gar nicht genug bekommen. So wie die Mutter lebt, muß er Dinge gesehen haben, die ein Kind niemals sehen darf.«
Die Rede war von Mona. Ihrer Körpersprache und ihrem Tonfall entnahm er, lange ehe er alle Worte verstand, was sie meinten. Er begriff, daß Mona ein schlechterer Mensch war, und er selbst ebenso. Ein Problem, das alle Beteiligten ständig diskutieren mußten. Im Elend geboren, ein unerwünschtes Kind, ein eigensinniger und selbstsüchtiger Mensch. Erst durch Cecilias Güte war ihm das Recht zuteil geworden, existieren zu dürfen. Eine Schuld, die er nie würde zurückzahlen können, und deshalb empfand er Haß. Aber es gab auch eine Sehnsucht.
In der ersten Klasse hatte er im Schwedischunterricht einen riesigen Pimmel gezeichnet. Lennart hatte ihn herausgefordert und behauptet, er würde sich das nicht trauen, aber im Grunde war es Fredriks Idee gewesen. Dessen Vater konnte mit seinem Schwanz zwölf übereinander liegende Einkronenstücke umstoßen. Zwölf Kronen! Das behauptete er jedenfalls. Die Jungs hatten gelacht. Die Mädchen hatten gekreischt und sich in kleine Gruppen dicht zusammengedrängt.
Natürlich hatte er Aufmerksamkeit bekommen. Einen kleinen Moment lang, ehe die Lehrerin kam, hatte er im Mittelpunkt gestanden. Dann wurde er ein Fall für die Kinderpsychologin. Es war, als hätten sie nur auf den Startschuß gewartet. Cecilia war geradezu erfreut. Nach jedem Treffen mit der Kinderpsychologin lief das Telefon mehrere Stunden lang heiß. Wörter wie »Übergriff« und »Inzest« wurden mit deutlicher Aussprache geflüstert.
In den
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