Tod im Jungfernturm
gleichermaßen.
Und dann war es plötzlich über sie gekommen, als sie da stand und die Wäsche sortierte. Sie hatte ein weißes Nachthemd in der Hand gehalten, und da packte es sie. Es war das Nachthemd im Zusammenhang mit dem Händeschütteln, das längst Vergessenes wieder ans Licht brachte. Da war die Erinnerung an Wilhelms Vater, der sie begrüßte, als Anselm gerade draußen war. Es war Abend, und sie hatte ein Nachthemd an, das ganz neu war, denn sie hatte es von Svea, der Gemeindeschwester, zu Weihnachten bekommen. Es war aus Synthetik, sehr dünn und mit Spitzen besetzt. Oskar Jacobsson, Wilhelms Vater, hatte auf dem Küchensofa gesessen. Seine Blicke hatten sie gesucht und ausgezogen. Beharrlich lächelnd, ohne seine Aufmerksamkeit von ihrem Körper zu wenden, hatte er sich am Schwanz gekratzt, den Schritt gerieben und ihren Blick in seinen gezwungen.
»Wir haben uns noch nicht begrüßt.« Er war aufgestanden und hatte ihre Hand genommen und fest und lange gedrückt. Schmerzhaft lange. Sie hatte versucht, sie wegzuziehen, aber er hatte sie festgehalten. Ein süßsaures Lächeln hatte seinen Mund umspielt. Ihr war übel gewesen, und ihr Körper war in Abwehr erstarrt. »In diesem Nachthemd da siehst du so süß aus, daß man am liebsten mit dir ins Bett gehen würde.« Er hatte das gesagt, als wäre es ein Witz, und dabei laut gelacht. Wie alt war sie gewesen? Acht, vielleicht neun. In dem Moment, als Anselm aus dem Stall reinkam, hatte sie noch mal versucht, sich loszureißen.
»Was is los?« Sie hatte auf Gerechtigkeit gehofft, die es nicht gab.
»Das Mädel will nicht guten Tag sagen.« Sie wurde daraufhin angefahren, daß sie gehorchen solle, und als sie die Sache erklären wollte, kam auch noch eine Ohrfeige dazu. Wie oft war das passiert? Sie wußte es nicht. Er berührte sie niemals auf andere Weise, jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern. Und doch vergriff er sich jedes Mal an ihr, wenn sie sich sahen. Er wußte es und verlangte Schweigen. Irgendwann gab sie die Abwehr auf und verriet sich selbst. Das war lange bevor sie mit Wilhelm zusammen war. Wie es Wilhelm und Sofia als Kind ergangen war, darüber wurde nie gesprochen. Das war verbotenes Terrain. Aber manchmal gab es Augenblicke … da fragte sie sich das.
Sie setzten sich mit den Feriengästen in die Gartenlaube. Olov saß kraftvoll und braungebrannt Mona gegenüber. Es sah erschöpft aus, und es überkam sie ein starkes Gefühl der Zärtlichkeit für ihn. Sie müßte mal unter vier Augen mit ihm reden. Mona erschlug eine Mücke auf ihrem Arm – sie war immer beliebt bei dem fliegenden Getier, das sich im Schatten der Blätter verbarg. Das Insekt war mit Blut vollgesaugt. Sie trocknete sich die Hand an der weißen Serviette. Die Kontraste schmerzten in den Augen, das Rot gegen das Weiß. Sie knüllte die Serviette zusammen.
Olov hatte Anselm geholfen, die Treppe hinunterzukommen. Der Sommerhitze zu Ehren trug Vater einen Strohhut und hatte die Ärmel hochgekrempelt. Er sah endlich einmal zufrieden aus.
»Und was macht Christoffer so?« fragte Sofia. Mona hatte schon mit dieser Frage gerechnet. Und es war auch klar gewesen, daß sie in genau diesem Tonfall gestellt würde. Es war jeden Sommer dasselbe. Same procedure as every year, Miss Sophie. Und dennoch hatte Mona keine vernichtende Antwort auf Lager. Sie wollte nicht antworten. Sie war unbewaffnet, und Sofia wußte das.
»Er arbeitet bei McDonald’s«, antwortete Olov ruhig und ohne Umschweife anstelle seiner Mutter.
»Und was macht er da? Ist er Einkaufsleiter?«
Du weißt sehr wohl, daß er das nicht ist, dachte Mona. Du weißt das, und du fragst aus reiner Schadenfreude. Es würde dir nicht im Traum einfallen, Olov zu fragen, was er tut. Es ist ja nicht so aufregend, wenn jemand sein Geld in der Notaufnahme verdient.
»Nein, als Clown. Und er arbeitet als Sänger und Gaukler in Restaurants.«
Mona konnte dem Blick der Schwägerin nicht standhalten.
»Was ist das denn?«
»Er spielt Rollenspiele.«
»Ach du meine Güte! Und was sagt Wilhelm dazu?« fragte die Freundin.
»Nichts!«
»Ach, er schaut tatenlos zu, wie sich der älteste Sohn als Hanswurst verdingt? Sollte der nicht den Hof übernehmen?«
»So viel Böses wünscht ihm niemand«, gab Olov zurück und lachte, wobei er seine schönen, ebenmäßigen Zähne zeigte.
»Eine kleine Landwirtschaft zu betreiben und nachts wach zu liegen und darüber nachzudenken, wie man das Geld zusammenbekommen soll und welche
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