Tod im Jungfernturm
gehäutet und nur ein Paar grauer Socken hinterlassen.
Mona ließ mit einem Schaudern die Hand über die feuchte Bandage auf ihrem Bein gleiten. Dann richtete sie sich auf, beherrschte sich und zog die Schreibtischschublade auf. Da lagen die Patronenschachteln. Vier Schachteln mit je zwanzig Patronen. Ihm waren achtzig Patronen zugeteilt worden, das hatte sie gehört, als er mit Anders am Telefon gesprochen hatte. Die nächste Schublade war leer bis auf einen kleinen Schlüssel, der aussah, als würde er zu einem Banksafe oder einem schweren Aktenkoffer passen. Sie steckte ihn in die Tasche des Morgenmantels und suchte weiter nach dem Magazin. Als das Telefon in der Küche klingelte, schrak sie so zusammen, daß sie die Patronen auf den Boden fallen ließ. Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte, während sie nach Luft rang. Beim dritten Klingeln griff sie nach dem Hörer.
»Sie haben Wilhelm gefunden und sind sicher gerade auf dem Weg zu dir. Ich habe es im Radio gehört. Du schweigst! Kein Wort, sonst geht es dir schlecht! Bestimmt werden sie das Haus durchsuchen.«
»Ich suche gerade nach dem Magazin vom AK4.«
Es wurde einen Moment lang still.
»Verdammt! Das mußt du aus dem Haus schaffen. Beeil dich, zum Teufel!«
»Wo kann es sein? Ich habe überall gesucht.« Mona war den Tränen nahe. Das mußte er gehört haben, denn er fuhr in freundlicherem Ton fort: »Hinter dem Bild von Oscar II. ist ein Geheimfach. Das habe ich ihn mal erzählen hören, als er richtig besoffen war.«
Barfuß und mit der Waffe unter dem Morgenmantel rannte Mona über den Stallvorplatz. Der Regen verwandelte ihn in ein schmieriges Schlammbad. Sie hatte es immer noch nicht geschafft, sich Unterwäsche anzuziehen, aber jetzt war es zu spät, um umzukehren. Die Polizei konnte jeden Augenblick dasein. Mona stolperte und stützte sich mit dem Knie im weichen Lehm auf. Sie rappelte sich wieder auf und lief weiter am Hühnerstall vorbei und die Treppe zum Kücheneingang hinauf. Henrik machte auf.
»Kannst du dich um das hier kümmern?« Sie reichte ihm die Waffe. »Es gehört Wilhelm.«
Henrik starrte sie eine Weile an, dann sah er zu Boden.
»Bitte, Henrik … die Polizei …«
Er nickte und nahm das Gewehr entgegen.
»Du kannst dich auf mich verlassen. Das habe ich ja gesagt.«
29
Sie standen auf der Treppe und beobachteten sie. Mona ging trotz des Regens etwas langsamer. Wagte nicht, darüber nachzudenken, wie sie in ihrem blutigen und lehmverschmierten Morgenmantel aussah. Sie versuchte mit beiden Händen zu verhindern, daß er aufwehte. Die rechte Hand geriet an kaltes Metall. Es war der Schlüssel aus Wilhelms Schreibtischschublade. Sie umklammerte ihn fest mit der Hand. Das Grollen des Gewitters umgab sie. Ein Blitz fuhr durch den Himmel. Der ganze Garten versank in graulilanem Dunkel, eine apokalyptische Finsternis. Der Tag des Zorns war da.
Unter dem Dach der Veranda standen ein Mann und eine Frau. Sie waren in einem weißen Ford gekommen. Polizei? Zweifellos.
Allein auf eine Gruppe Menschen zuzugehen, die untereinander eine Gemeinschaft bildeten, war ihr schon immer schwergefallen, doch in diesem Augenblick des Ausgesetztseins war es unmenschlich. Ihre Bewegungen wurden steif, ihre Gedanken glitten ins Nichts. Der Ton, der scharfe anhaltende Ton, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, wurde lauter und höher. Der Polizist rief ihr durch den strömenden Regen etwas zu, aber sie antwortete nicht, sie bekam kein Wort heraus.
Die Frau mit dem langen blonden Haar machte sich aus der Dunkelheit los und kam durch den Gewitterregen auf sie zu. Ihre Bewegungen waren ruhig und sicher, Licht und Dunkelheit spielten in ihren Haaren und Kleidern. Mona konnte ihr Gesicht noch nicht sehen, dazu hätte sie ihre Brille gebraucht. Der Gedanke, gesehen zu werden, ohne zu sehen, wurde übermächtig, und sie fing an zu laufen. Rannte in Panik über den Schotterweg, den lehmigen Hofplatz und in den Stall, wo sie sich in einer Box verkroch. Ihr Herzschlag dröhnte durch den Körper, das Blut rauschte in den Ohren. Durch den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, hörte sie die leichten glatten Absätze der Frau auf dem Zementboden.
»Mona, sind Sie da?« Es lag eine Spur von Sorge in der Stimme, die dunkel und sanft war. Mona schloß die Augen und spürte eine Hand auf ihrem Arm. Eine stille Wärme, die sich durch die Haut ausbreitete. Einen Arm um ihre Schulter. Sie wußte nicht mehr, wie lange sie da
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