Tod im Jungfernturm
»Das Krankenhausessen ist gar nicht so übel, sag ich dir«, hatte er zu seinem Bettnachbarn gesagt. Und nach ein paar Tagen war mal dies, und mal jenes auch gar nicht so übel, je nachdem, wer sich um ihn kümmerte.
Jetzt befand sich Mona im Besitz des gesamten Nachlasses. Der Bestatter hatte es ihr ganz genau erklärt: Alles, was sie gemeinsam besessen hatten, war jetzt ihr Eigentum. Er erbot sich, ihr später mit dem Inventarisieren des Nachlasses behilflich zu sein. Mona konnte jetzt in Wilhelms Büro ein und aus gehen, wie sie wollte. Dennoch hatte sie das Gefühl, damit etwas Unerlaubtes zu tun, nicht ganz verlassen. Es kribbelte immer noch ein wenig, als Mona die Tür zu dem ungelüfteten Raum öffnete. Sie steckte die Hände in die Manteltaschen und spürte den Schlüssel für den Banksafe. In ihrer Lage konnte sie sicher jemanden in der Bank bitten, herauszufinden, welche Nummer das Schließfach hatte, doch sie vermochte sich nicht dazu durchzuringen. Diese Bankleute waren einfach eine andere Sorte Mensch. Sie würde sich nur dumm vorkommen. Und wenn sie fragte, dann würden sie ganz deutlich merken, daß sie … ja, was war sie? Anders eben.
Das dachte sie, während sie vor dem Bild von Oscar II. im Kreis seiner Familie stand. Sie blickte an den Ornamenten des Goldrahmens entlang. Daß dieses Bild irgendwann einmal nur einsfünfundvierzig gekostet hatte. Die Eins sah genauso aus wie Wilhelms Einsen. Die Fünf sah auch so aus, als ob er sie geschrieben hätte. Wenn sie Glück hatte, richtig Glück, dann war das die Nummer des Banksafes. Es war einen Versuch wert.
Schon als Mona den Hörer hob, um ihn anzurufen, verspürte sie einen schleichenden Unmut. Wenn sie gewußt hätte, daß das zu einem weiteren Mord führen würde, dann hätte sie die verhaßten Zahlen auf dem Telefon niemals angerührt. Aber jetzt war sie klein und ängstlich. Sie fürchtete sich, allein in die Bank zu gehen, den Marmorpalast der Zahlen zu betreten, ohne genau zu wissen, wie man sich da benahm. Trotz des Sonnenscheins und der Sommerhitze behielt sie das schwarze Kleid an. Vielleicht würden sie besonders behutsam mit ihr umgehen, wenn sie Schwarz trug. Außerdem sah sie in dem Kleid besser aus als in irgend etwas sonst. Die dunklen Augenbrauen und Wimpern wurden dadurch betont, und ihre Figur zeichnete sich genauso ab wie bei dem Model im Bestellkatalog. Nach dem Streit, den es gegeben hatte, weil sie eine Menge unnötiger Dinge bestellt hatte, hatte sie nie gewagt, Wilhelm das Kleid zu zeigen.
Jetzt konnte sie seine Gestalt zwischen den Bäumen erkennen. Es fühlte sich besser an, wenn man nicht allein in die Bank gehen mußte.
Obwohl er bei ihr war und den Arm um ihre Schultern gelegt hatte, zitterte Monas Hand, als sie die Nummer und den Namen auf dem Zettel eintrug, den ihr die Kassiererin hingehalten hatte. Eigentlich hatte Mona alles Recht der Welt, dort zu sein, der Banksafe gehörte ihnen beiden. Und dennoch war es Wilhelms Revier, es kam ihr vor, als würde sie eine Grenze überschreiten und in seinem geheimen Zimmer herumschnüffeln. Was würde sie finden? Den Grundbucheintrag für das Haus, seine kläglichen Grundschulzeugnisse und hoffentlich ein wenig Geld. Was, wenn sie die falsche Nummer eingetragen hatte? Eigentlich war es ja nur eine lose Vermutung gewesen, daß die Zahlen auf dem Bild die Nummer des Schließfaches darstellen könnten. Er hatte gesagt, daß es nichts machte, wenn sie die falsche Nummer eintrug, aber sie hatte Angst. Es war einfach unangenehm, wenn etwas nicht stimmte. Peinlich und entlarvend.
»Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?« Mona öffnete ihre abgewetzte Brieftasche aus Kunstleder, pickte ein paar lose hängende Fäden ab und zeigte ihren Führerschein. Das Gitter öffnete sich, und sie stiegen in den Bankkeller hinunter, er vorneweg und Mona hinterher. Sie fand, daß der Keller mit seinen kahlen weißen Wänden und den Steinpfeilern wie ein Gefängnis aus sah. Als das Gitter sich hinter ihnen schloß, hallte es nach. Nun waren sie allein.
Er zog sich Handschuhe über und nahm ihr den Schlüssel aus der Hand, als sie aufschließen wollte. Natürlich zitterte ihre Hand, aber sie hätte trotzdem gern selbst das Fach geöffnet. Er zog den schwarzen Kasten heraus und sah sich schnell prüfend um, ehe er den Deckel aufmachte. Mona beugte sich vor und hätte sich fast vor Erstaunen hingesetzt, als sie die Bündel von Tausendkronenscheinen sah. Ganz oben lag ein dicker Brief, der an
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