Tod im Moseltal
Sohnes. Fahrt sofort zur Schule. Vielleicht ist er noch da. Welche Nummer hat das Handy?« Die letzte Frage war wieder an Marie gerichtet.
»Ich weiß es nicht auswendig. Es ist neu. Ich hab’s in meinem Handy. Mein Mann … er telefoniert noch mit ihm.«
»Waaas?« Mit einem Satz war Reuter an ihr vorbei und in ihrem Zimmer. Dort stand Thomas bewegungslos mit kraftlos herabhängenden Armen. Sein Blick schien ins Unendliche gerichtet, und erst als Reuter ihn anschrie, reagierte er.
»Hat er noch was gesagt? Mensch, Steyn, reden Sie!«
Lethargisch schüttelte Thomas den Kopf. Reuter entriss ihm das Handy, suchte im Telefonbuch die Nummer von Mattis und gab sie seinen Kollegen durch. Dann wählte er Nicole Huth-Balzer an.
»Mazzomaid hat Mattis Steyn. Komm sofort zum …« Er schaute Hilfe suchend zu Marie.
»Parkplatz West«, antwortete sie.
»Parkplatz West«, gab er weiter. »Ich komme sofort runter.« Im Laufen rief er Marie noch zu: »Sie bleiben hier!«, dann war er um die Ecke des Korridors verschwunden.
Für einen Moment hatte Marie dem Polizisten hinterhergeschaut, dann lief sie in ihr Büro und zerrte die Jacke mit den Aufschlüsseln vom Haken. Erst jetzt schien auch Thomas wieder aus seiner Blockade befreit zu sein und eilte ihr hinterher.
Mit dreihundert Metern Rückstand zu den Polizisten erreichten sie Maries Auto. Marie raste los, doch bereits an der Ausfahrt des Parkplatzes versperrte der rollende Verkehr ihre Weiterfahrt. Trotz Dauerhupens ließ sie erst der sechste Wagen passieren, unmittelbar danach musste Marie abrupt bremsen, um nicht mit dem ohne Rücksichtnahme aus der Haltebucht ausscherenden Linienbus zu kollidieren. Marie schrie und fluchte hinter dem Lenkrad, aber bei dem ihr zweispurig entgegenkommenden Verkehr konnte sie nicht überholen.
Das schaffte sie erst mehrere hundert Meter später über eine Abbiegespur. Aber auch danach war nach abenteuerlichem Einfädeln in den Kreisverkehr an der folgenden Gefällstrecke wieder Schluss: Die betagte Fahrerin eines Mercedes schien gehörigen Respekt vor der am Hangfuß anschließenden Linkskurve zu haben und schlich mit fünfunddreißig Stundenkilometern die kurvige Kohlenstraße entlang.
Maries nächster Überholvorgang erfolgte über die Gegenfahrbahn an einem auf der Linksabbiegerspur wartenden Auto vorbei. Es gelang ihr gerade noch, den Golf zwischen dem nächsten entgegenkommenden Fahrzeug und einer Überquerungshilfe zurück auf die Fahrbahn zu lenken. Mit Vollgas raste sie die nun auf ein paar hundert Metern freie Strecke hinunter ins Moseltal, bis sie erneut hinter einem Auto hing. Sie wollte gerade wieder überholen, als sie das Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht und einem wild gestikulierenden Kommissar Reuter an der Einmündung zur Kolonnenstraße stehen sah. Unschlüssig, ob sie anhalten sollte oder nicht, trat sie erst auf den letzten Metern scharf auf die Bremse, sodass Thomas hart an die Windschutzscheibe schlug.
Keuchend kam Reuter zu ihrem Auto gerannt und riss die Tür auf. »Sie haben ihn, sie haben Mattis. Er ist in Ordnung. Es ist alles okay.« Er pustete noch zweimal kräftig durch und wiederholte: »Es ist alles okay. Es geht ihm gut.«
*
Maries Fingergelenke schimmerten schneeweiß, so fest hielt sie immer noch das Lenkrad umklammert. Schluchzend fiel sie in sich zusammen und sackte mit dem Kopf aufs Lenkrad.
Am Abend hatte sich in der Zentralen Kriminalinspektion die Aufregung des Tages weitestgehend gelegt. Die engeren Mitglieder der Sonderkommission Domäne saßen müde und abgespannt um den sechseckigen Tisch des Besprechungsraumes. Die sichtbarsten Spuren hatte die vermeintliche Entführung von Mattis Steyn bei der jungen Kommissaranwärterin hinterlassen. Nicole Huth-Balzer war blass mit deutlichen Augenringen. Ihre Haare hatten sich teilweise aus dem Pferdeschwanz gelöst und hingen wirr um ihr Gesicht.
»Lasst uns die Ergebnisse von heute noch einmal kurz zusammenfassen. Das Wichtigste: Dennis Mazzomaid lebt, ist also nicht Opfer eines Unfalls mit seinem Wohnmobil geworden. Vielmehr hält er sich in Trier auf, und wie sich heute Mittag gezeigt hat, beobachtet er weiter einzelne Mitglieder der Familie Steyn. Das heißt: Die aktuelle Situation ist brandgefährlich.«
Gerhardts hatte souverän die Fahndung nach Mazzomaid geleitet und sprach auch nach dem anstrengenden Tag noch konzentriert zu seinen Mitarbeitern. »Dass er an das Handy von Mattis Steyn gekommen ist, kann Zufall gewesen sein.
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