Tod im Moseltal
hatte, dachte sie über den Traum nach. War Thomas wirklich ein Köder der Polizei? Scherte sich Christian Buhle wirklich nicht um die Gefahr, in der sich Thomas befand? War er sogar bereit, ihn zu opfern, um den Täter überführen zu können?
*
Gegen zwei Uhr hatte der Regen wieder eingesetzt. Der launische Novemberwind warf ihn in unregelmäßigen Abständen klatschend an die Fensterscheibe des Schlafzimmers. Thomas war kurz eingeschlafen. Nun lag er, geweckt vom Trommeln der Regentropfen, auf dem Rücken in seinem Bett. Er hatte die Jalousien absichtlich nicht geschlossen, doch auch so drang nicht einmal diffuses Nachtlicht in das Zimmer.
Er ging seinen Plan noch einmal durch. Zufrieden stellte er fest, dass er immer noch keine wirkliche Schwierigkeit ausmachen konnte. Zum Glück hatte er nach dem Essen noch einmal den Weg durch den Garten prüfen wollen. Allein dadurch, dass er sich mit drei Schritten aus der Hintertür in den Garten wagte, hatte er einen der Polizisten auf den Plan gerufen. Dabei konnten die von ihrem Auto aus die Rückseite des Hauses gar nicht einsehen. Die Polizei musste an verschiedenen Stellen im Garten eine Art Warnsystem eingerichtet haben. Nach einer halben Stunde hatte er vier kleine Kameras mit Bewegungsmeldern entdeckt. Er meinte aber auch den Weg gefunden zu haben, wie er unbemerkt verschwinden konnte.
In einer Regenpause registrierte er die gewohnten Geräusche des Hauses, die vom Gebälk des Daches, losen Fassadenteilen und von den miteinander wispernden Zimmerwänden stammten. Die letzte Vertrautheit seiner Kindheit. Wehmütig nahm er Abschied.
Um Viertel vor vier stand er auf. Er zog sich im Dunkeln die zurechtgelegten Kleider an und tastete sich weiter in den Flur, die Treppe hinab bis ins Kellergeschoss. Hier hatte er den Rucksack abgelegt, den er mitnehmen wollte. Viel war nicht drin: das Fahrtenmesser von Mattis mit der abgerundeten Spitze, Pfefferspray von Marie, das sie sich gekauft hatte, als sie anfing, abends durch das Avelertal nach Tarforst und zurück zu joggen, ein Brotmesser, ein Gemüsemesser, das die Polizei nicht als beweisträchtig erachtet hatte, und eine Drahtschere. Er stellte sein Smartphone auf stumm, prüfte, ob er die Schlüssel eingesteckt hatte, und stieg dann durch das kleine rückwärtige Fenster des unter der Terrasse befindlichen Anbaus.
In seiner schwarzen Jacke und Hose war er nur ein schneller Schatten in dieser verregneten Novembernacht. Nach fünfundzwanzig Metern hatte er die alte Hecke zum Nachbargrundstück erreicht. Er zwängte sich durch eine der vielen Lücken und wartete. Weder von der Straße noch von seinem oder den beiden Nachbarhäusern drang ein verdächtiges Geräusch zu ihm.
Rasch huschte er über durchgeweichte Rasenflächen und durch zwei weitere, deutlich dichtere Schnitthecken, bis er einen Wiesenweg erreicht hatte. Von hier hätte er direkt zur Baltzstraße gelangen können, wäre aber im Sichtfeld seiner Beschatter gewesen. Deshalb umrundete er auch die letzten beiden Grundstücke über Wiesen und Säume. Hinter einer Kurve querte er zügig, aber ohne zu laufen, die Baltzstraße. Er eilte weiter bis zur Rückseite der Grundstücke und hielt dort im Schutz einer weiteren Hecke in gehockter Haltung kurz inne. Dann schlich er entlang den Gärten zurück in die Nähe seines Ausgangpunktes.
Früher hätte er keine Chance gehabt. Als er ein Kind gewesen war, hatte jeder zweite Hausbesitzer einen großen Hund besessen, den er vorzugsweise in einem Zwinger oder dem Schuppen hielt. Sein Fluchtversuch wäre am Bellen der Tiere gescheitert. Nun blieb alles ruhig. Er gelangte unbemerkt hinter das Haus von Stefan Thieles.
Es regnete wieder; Hose, Schuhe und Jacke waren mittlerweile durchnässt. Vorsichtig und gebückt tastete er sich durch den Garten, einen Weg konnte er nicht ausmachen. Als er mit dem Fuß gegen etwas Metallisches stieß, griff er instinktiv nach unten und konnte gerade noch verhindern, dass die alte Gießkanne auf einen flachen Stapel von Waschbetonplatten schlidderte. Jetzt waren es nur noch wenige Schritte bis zur Rückwand des Hauses.
Thomas hatte die unterschiedliche Architektur der Doppelhäuser in Avelsbach immer fasziniert. Stefan Thieles bewohnte ein Haus, bei dem die früheren Stallungen zwischen den Wohngebäuden lagen. Stefan hatte schon als Jugendlicher an Mopeds herumgeschraubt. Thomas vermutete, dass er den Schuppen auch heute noch dafür nutzte und mindestens ein fahrtüchtiges Motorrad darin
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