Tod im Moseltal
Mördern, vielleicht auch zu Recht, hart ins Gericht. Aber für ihre Angehörigen, die Partner, Kinder, Eltern und Geschwister, begann ein Spießrutenlauf, dem sie sich nicht in einer abgeriegelten Zelle entziehen konnten. Nicht wenige zerbrachen daran, lange bevor der Täter seine Strafe abgesessen hatte.
Alle werden es erfahren, schoss es Marie durch den Kopf, alle. Die Nachbarn wissen es schon. Mein Gott, was müssen die Nachbarskinder hier in Avelsbach von Tom halten? Wann werden es Mattis und Nora erfahren? Jetzt kam sie doch, die Panik. Solange sie gedacht hatte, es sei irgendwie zu regeln, weil Thomas unschuldig war, war alles nicht so schlimm gewesen. Irrtümer konnten aufgedeckt und geklärt werden. Aber wenn alle Welt ihren Mann schon für den Mörder hielt, dann war es vorbei, dann konnten sie hier nicht mehr bleiben.
Ihr Blick suchte die von ihr so geliebte Landschaft vor dem Fenster. Aber sie sah nur in eine schwarze Nacht, vor der sich schemenhaft die Wohnzimmereinrichtung spiegelte, mit einer kleinen und einer großen Person mittendrin.
Mit einem Ruck wandte sie sich Gerhardts zu. »Ich rufe jetzt einen Freund an, bei dem ich sicher unterkommen werde. Dann bringen Sie mich hier weg, ohne dass mich jemand sieht. Wenn ich den Namen meines Mannes morgen in der Zeitung lese, werden Sie ein juristisches Donnerwetter erleben, das ist Ihnen doch wohl klar. Die Familie von Steyn hat hier mehr zu verlieren als den verblichenen Ruf eines preußischen Adelsgeschlechts. Wenn mein Schwiegervater seine Geschäfte in Gefahr sieht, wird er alle Hebel in Bewegung setzen, um dies zu verhindern.«
Während sie jetzt wieder mit fester, entschlossener Stimme sprach, nahm sie aus einem Fach der Bücherwand einen Notizzettel und einen Kugelschreiber. »Holen Sie mich morgen früh um sieben Uhr bei dieser Adresse ab. Sie müssen ganz unten bei Peter Kasper klingeln. Die Telefonnummer von Herrn Kasper und meine Handynummer schreibe ich Ihnen dazu.«
3
Luxemburg; November im Jahr zuvor
Er hatte eine Zeit gebraucht, um sich vom Schock der unverhofften Begegnung einigermaßen zu erholen. Nachdem ihm klar geworden war, dass dies im normalen Alltag nicht möglich war, hatte er sich eine Woche an der Côte d’Azur versteckt. Dabei hatte er genau das nie wieder tun wollen: sich vor ihm verstecken. Aber in diesem Moment gab es für ihn keine andere Möglichkeit. Er musste allein sein. Allein, ohne Mariana, ohne Kollegen und ohne die Kameraden vom Kickboxen. Er konnte sie alle nicht in seiner Nähe ertragen.
Danach ging es besser, ein wenig zumindest. Als Nächstes trennte er sich von Mariana. Er hatte ohnehin die Lust an dieser Beziehung verloren. Das ursprünglich einfach nur leidenschaftliche portugiesische Mädchen hatte zunehmend Ansprüche gestellt, wollte über eine gemeinsame Zukunft reden, über ein gemeinsames Zuhause, über … Es war Zeit, die Notbremse zu ziehen. Zuletzt war es unerträglich geworden: Ihr ständiges Drängen, ihre Versprechen, ihre entsetzten dunklen Augen, wenn er richtig boshaft wurde. Diese Befreiung, als sie endlich weg war, hatte ihm einen weiteren Schub gegeben.
Schwierig war der Tag des nächsten Konzerts Mitte November gewesen. Er hatte sich schon lange auf Beethovens Fünfte gefreut, war sogar eher neugierig als skeptisch gewesen auf Bartóks Konzert für Klavier und Percussions, obwohl er den moderneren Komponisten gegenüber weit weniger aufgeschlossen war als den Klassikern. Aber dann war er fast eine Dreiviertelstunde um die avantgardistisch gebaute und eindrucksvoll erleuchtete Philharmonie herumgeschlichen. Als ob die Fassade mit ihrem Wechsel von Beton- und Lichtsäulen einen persönlichen Schutzschild gegen ihn aufgebaut hatte. Er vermochte ihn nicht zu durchdringen. Völlig erschöpft hatte er sich ein Taxi zu seiner Wohnung genommen und war, ohne sich auszuziehen, in sein Bett gefallen.
Dieser Rückschlag war heftig, aber nur kurz gewesen. Mit verhangenen Fenstern und ignorierten Verabredungen hatte er sich über das Wochenende gerettet. Hatte sich immer wieder eingeredet, dass dieser Mensch keine Macht mehr über ihn hatte. Hatte sich vor Augen geführt, wie mächtig er selbst im Beruf und im Privatleben geworden war. Schließlich gewann er eine neue Entschlossenheit und regenerierte sich in den folgenden Wochen zunehmend, arbeitete weiter hart und konsequent an seiner inneren Stabilität. Letztendlich war er sich sicher, dass er die Kraftprobe beim nächsten Besuch der
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