Tod im Moseltal
Philharmonie gewinnen würde.
Umso größer war die Enttäuschung, als er ihn nun vor dem Konzert nicht finden konnte. Der Shuttlebus aus Trier war gut besetzt gewesen, aber ihn konnte er nicht entdecken. Auch nicht im Foyer, wo er ihn das vorherige Mal gesehen hatte, oder im nicht ganz ausverkauften großen Auditorium.
Während er der jungen, engagierten und doch merkwürdig distanzierten Cellistin zusah, die mit ihren zierlichen, aber unglaublich kraftvollen Fingern das melancholische Cellokonzert von Elgar spielte, versuchte er sich darüber klar zu werden, ob er nun erleichtert oder betrübt sein sollte. Er entschloss sich für beides: erleichtert, weil er es ohne Probleme bis hierhin geschafft hatte; betrübt, weil er sich nicht in seiner Gegenwart beweisen konnte. Zufrieden solidarisierte er sich im letzten Satz mit dem Orchester, das dem den bedrückenden Stimmungen des ersten und dritten Satzes nachhängenden Cello energisch entgegentrat und somit jede Schwermut wegzufegen schien, bis das Finale kraftvoll und unvermittelt endete.
Die Pause verbrachte er fast schon beschwingt mit einem Sektglas in der Hand, den großen Konzertsaal im Foyer umkreisend. Entlang an über achthundert weißen Säulen, die ihn seit der Einweihung vor vier Jahren immer wieder betörten und diesen unglaublichen Charakter des ovalen Gebäudes sowohl von außen als auch im Innern ausmachten. Als einer der Letzten begab er sich zurück ins Auditorium und suchte sich für die Sinfonie einen der noch zahlreichen freien Plätze in den besseren Rängen.
»Pelléas und Mélisande« von Arnold Schönberg hatte er vorher noch nicht gekannt. Aber der dramaturgische Hintergrund des ursprünglichen Theaterstücks des belgischen Schriftstellers Maurice Maeterlinck, wie er im Programmheft beschrieben stand, faszinierte ihn: »Prinz Golaud hat gegen den Willen des Hofes die schöne Mélisande geheiratet. Doch auf dem düsteren Schloss ist Mélisande fremd und fürchtet sich. Nur zu Golauds Bruder, Pelléas, fasst sie sofort Vertrauen. Zwischen den beiden entsteht eine tiefe Bindung. Obwohl ihr Verhältnis völlig unschuldig ist, erregt es die Eifersucht Golauds. Als Pelléas sich kurz vor einer Reise von Mélisande im Garten verabschieden will, erschlägt Golaud ihn. Vor Trauer stirbt auch Mélisande kurze Zeit später.«
Einige Tage später, als ihm die Musik von Schönberg schon längst wieder abhandengekommen war, entdeckte er in einer kleinen Buchhandlung ein Taschenbuch mit wunderschön expressionistisch gestaltetem Einband: eine neue französische Ausgabe von Maeterlincks Theaterstück. In sich gekehrt ging er zur Kasse.
4
Trier; Montag, 1. November
Als Christian Buhle und Paul Gerhardts um zehn vor sieben langsam die Kurfürstenstraße im Trierer Ostviertel entlangfuhren und hinter der endlosen Reihe parkender Autos die richtige Hausnummer suchten, wartete Marie bereits auf dem in der einsetzenden Dämmerung matt glänzenden Bürgersteig. Sie hatte den Reißverschluss der schwarzen Winterjacke zugezogen und ihre Hände tief in den Taschen vergraben. Über Nacht waren die Temperaturen bis fast an den Gefrierpunkt gesunken, und mit dem am Morgen einsetzenden Regen kroch die Kälte in alle Ritzen der Stadt.
Nachdem Marie den Fahrer des silberfarbenen BMW als Kommissar Gerhardts identifiziert hatte, stieg sie wortlos auf der Fahrerseite ein. Erst nach einigen Sekunden auf dem Rücksitz besann sie sich und grüßte die beiden Polizisten einsilbig.
Sie war froh, dass Gerhardts tatsächlich, wie gestern noch zum Abschied versprochen, so früh mitgekommen war. Innerlich musste sie sogar darüber schmunzeln, wie er es am Tag zuvor geschafft hatte, die Journalisten in die Irre zu führen. Er hatte diesen verbeamteten Autofreak mit dem Alfa bis dicht vor das Gartentor fahren lassen, der dann lautstark die Reporter fortjagte. Spätestens als er einem der beiden Schutzpolizisten leise befahl, die Frau des Verdächtigen aus dem Haus zu holen, hatte er die Aufmerksamkeit der Medienleute voll auf sich gerichtet. Gerhardts konnte so mit ihr auf der anderen Seite ihres Grundstücks und im Sichtschatten des Hauses mit den sich anschließenden Hecken unbemerkt über den Feldweg nach Tarforst und weiter nach Filsch verschwinden. Dort hatten sie zur Sicherheit in einer der oberen hangparallelen Seitenstraßen eine Zeit lang gewartet. Schließlich hatte Gerhardts sie über weitere Höhenstadtteile Triers ins Ostviertel zu Peter gebracht, ohne dass jemand
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