Tod im Netz: Kriminalroman (Oldenburg-Krimi) (German Edition)
Einser-Diplom hatte ihr nur ein tonloses »Gut« entlocken können.
In vielen Jahren hatte er gelernt, sich seine eigene Welt zu schaffen, sich abzuschotten. Zunächst hatte er eine räumliche Distanz schaffen wollen. Als er seiner 'Mutter' vorschlug, den Kellerraum als sein Kinderzimmer nutzen zu wollen, bezog er nicht nur eine anständige Tracht Prügel, sondern wurde nach einer Moralpredigt von ihr volle drei Tage mit Nichtachtung gestraft. Das Essen setzte sie ihm ohne ein Wort vor , und wehe, er aß nicht alles auf. Den ersehnten Kellerraum hatte er nie bekommen. Mit einem Freund hatte er sich ein Baumhaus im Wald gebaut, ohne seiner Mutter davon zu erzählen. Er nahm sogar die Schläge in Kauf, die er bekam, wenn er wieder mal schmutzig war oder zu spät nach Hause kam. Denn wenn er in dem Baumhaus war, fühlte er sich frei wie die Vögel, die er von dort aus beobachten konnte.
Aber wieso hatte er diesem Mädchen etwas angetan? Besser gesagt , war sie schon eine junge Frau von 21 Jahren, und damit um einiges jünger als er selbst. Er wollte sie doch nur treffen. Über einen Chat hatte er sie kennengelernt.
Ein Kollege hatte ihn einmal als 'Sozialautist' bezeichnet, was ihn schwer getroffen hatte. Fachlich sahen die meisten seiner Kollegen zu ihm auf. Er war ein brillanter Analytiker, aber gefühlskalt zu den Menschen.
Im Chat gelang es ihm besser , eine Gefühlsebene aufzubauen. Diese jungen Dinger waren so naiv. Hatten sie einmal Vertrauen gefasst, konnte er sie leicht manipulieren. Für Annika hatte er länger gebraucht, sie war zurückhaltender gewesen als die anderen. Anfangs wollte er nur ausprobieren, wie weit er gehen konnte. Bestellte junge Frauen an öffentliche Orte, um sie dann zu beobachten. Sie lernten ihn nie kennen, bis auf das eine Mal.
Geduldig las er von Annika s Problemen als Studentin im ersten Semester, spielte den Verständnisvollen, den Frauenversteher, gab ihr Tipps für die Universität. Er stünde kurz vor dem Abschluss und hätte das alles auch so erlebt wie sie.
Es hatte mehrere Monate vor dem Laptop und viel Geduld erfordert, sie zu einem Treffen zu bewegen. Sie wollte vorsichtig sein, stimmte nur einem Treffen in einem Caf é zu. Er wusste, wo sie wohnte, denn für ihn war es ein Leichtes, an eine solche Information zu kommen. Das relativ kurze Stück zu dem Lokal hatte sie Fuß zurücklegen wollen. Er hatte sie abgepasst, ihr erzählt, rein zufällig dort vorbeigefahren zu sein. Er hatte ihr angeboten, dass sie gemeinsam zu dem Café fahren könnten, sie glaubte ihm, glaubte seinen süßen Lügen. Sie hätte nicht zu ihm ins Auto steigen dürfen.
Aber er musste nun noch vorsichtiger sein. Durfte nicht die gleichen dummen Fehler machen wie die Leute, die ihm aufgrund seines Berufes begegneten, sich durch ihre Aussagen selbst in Widersprüche verwickelten oder eindeutige Spuren am Tatort hinterließen. Er hielt sich für schlauer als diese Menschen, die für ihn nur den Abschaum der Gesellschaft darstellten. Warum wurden sie denn immer wieder erwischt und in den Knast gesteckt? Weil sie einfach zu blöd waren, auch nur zwei Schritte weiterzudenken. Als passionierter Schachspieler war er es gewohnt, vier, fünf oder gar sechs Züge vorauszudenken, unzählige Optionen durchzuspielen, die Folgen zu analysieren. Formale Logik, in dieser Disziplin war er allen überlegen.
***
Paul wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Je mehr Hinweise abgearbeitet wurden, desto mehr Leute konnten als mögliche Täter ausgeschlossen werden. Je mehr Fragen gestellt und beantwortet wurden, desto mehr fokussierten sich die Ermittlungen auf drei Männer: allen voran Kai Rentz, aber auch sein Vizepräsident vom ‚Club Leonardos‘, Henning Werdemann, als auch der Chef des großen hiesigen Versorgungsunternehmens, Albert Wonka, waren noch lange nicht aus dem Schneider. Traute er Kai Rentz zu, die beiden jungen Frauen kaltblütig oder im Affekt ermordet zu haben? Oder mussten sie ihre Theorie von einem Einzeltäter über den Haufen werfen? Sie konnten letztlich alle drei gemeinsam hinter der Tat stecken.
» Axel, für wie wahrscheinlich hältst du es, dass wir nicht nur einen, sondern drei Täter suchen, dass die beiden anderen zumindest geholfen haben?« Der Fallanalytiker vom LKA lief im Büro auf und ab.
» Ich möchte zwar grundsätzlich nichts ausschließen, aber in der deutschen Kriminalgeschichte ist es extrem selten, dass auch nur zwei, geschweige denn drei Leute einen Mord durch
Weitere Kostenlose Bücher