Tod im Schärengarten
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Nora betrachtete den Tisch im Wohnzimmer, der mit den Kopien aus dem Amtsgericht übersät war. Am Abend zuvor hatte sie aus den Akten verschiedene Stapel gebildet. Einige davon lagen auf dem Sofa, weil auf dem Tisch kein Platz mehr war. Sie hatte wie geplant die Papierhaufen neu sortiert, konnte aber immer noch kein Muster erkennen.
Sie seufzte und streckte sich nach ihrer Teetasse aus. Es gab nichts zu entdecken. Sie konnte das ganze Projekt ebenso gut fallen lassen.
Das Wetter war grau und trübe. Es nieselte und war ungemütlich. Die Jungs saßen in ihrem Zimmer und waren ganz versunken in ein Computerspiel. Sie hatten überhaupt keine Lust gehabt, nach draußen zu gehen, trotz Noras Ermahnungen.
Sie stellte die Teetasse ab und ging langsam um den Tisch herum. Betrachtete die Dokumente. Versuchte etwas zu sehen, was sie bisher nicht gesehen hatte.
Die Jungs kamen die Treppe herunter und wollten etwas essen. Ob sie sich Zimtschnecken nehmen dürften? Nora ging in die Küche, holte ein paar Zimtschnecken aus dem Schrank und goss Orangensaft in zwei Gläser. Die Brüder stellten sich neben sie und passten auf, dass sie genau die gleiche Menge bekamen.
Adam war in diesem Sommer wirklich gewachsen, stellte Nora mit einem Stich von Wehmut fest. Er war einen Kopf größer als Simon und reichte ihr schon bis an die Brust. Viel zu bald würde er ein pickliger Teenager sein, der ganz andere Sachen im Kopf hatte als Mama.
Während die Jungs ihre Saftgläser miteinander verglichen, fiel Nora plötzlich ein, dass sie die Konkursfirmen nicht nach Verlusthöhe verglichen hatte. Sie hatte überhaupt nicht über den Umfang der jeweiligen Insolvenzen nachgedacht. Nicht einmal gestern Abend, als sie wirklich versucht hatte, in ganz anderen Bahnen zu denken.
Mit strenger Mutterstimme ermahnte sie ihre Söhne, am Tisch sitzen zu bleiben, während sie aßen. Dann ging sie rasch ins Wohnzimmer zurück, ganz gefangen von ihrer neuen Idee.
Es dauerte fast eine Stunde, alle Akten umzusortieren.
Als sie fertig war, lagen sie in absteigender Reihenfolge. Adam und Simon hatten längst ihre Schnecken aufgegessen und waren zu ihrem Computerspiel zurückgekehrt. Die leeren Gläser standen in der Küche und überall lagen Krümel.
Nora kümmerte sich nicht darum. Stattdessen betrachtete sie zufrieden die neuen Stapel, die vor ihr lagen. Der Unterschied war auffallend.
Die erste Gruppe bestand aus Unternehmen, bei denen es um Verluste in Höhe von hundert Millionen Kronen oder mehr ging. Es war eine bunte Mischung aus IT – Firmen, Reiseveranstaltern und anderen größeren Unternehmen.
Die nächste Kategorie umfasste die Größenordnung sechzig bis siebzig Millionen. Hierin befand sich die Mehrheit der Konkurse, die Juliander verwaltet hatte. Da war alles Mögliche darunter, von Bauunternehmen bis zu Consultingfirmen. Viele waren in Familienbesitz oder gehörten einer Handvoll Eigentümern, die den Betrieb gegründet hatten.
Als Letztes kam eine Reihe von Insolvenzen, deren Verluste nicht mehr als zwanzig bis dreißig Millionen betrugen. Das waren Unternehmen aus verschiedenen Branchen. Darunter eine Zeitarbeitsfirma, die pleitegegangen war, als die Konjunktur zurückging. Ein paar andere waren kleinere Firmen aus der IT – Branche.
Und dann war da noch eine einzelne Insolvenz, eine Zahnarztpraxis, die einen Umsatz von lediglich gut vier Millionen pro Jahr erzielt hatte. Erstaunlich wenig, um jemanden wie Juliander mit der Abwicklung zu beauftragen.
Warum hatte er einen so unbedeutenden Auftrag angenommen, wo er als renommierter Insolvenzverwalter doch ganz andere Fälle hätte haben können?
Nora setzte sich auf einen freien Stuhl und nahm sich die Akte vor.
Die Praxis hieß Olof Martinsson Tandläkarpraktik AB .
Laut Verwaltungsbericht hatte sie dem Zahnarzt Olof Martinsson allein gehört. Eine Zahnarzthelferin und eine Zahnpflegerin waren angestellt gewesen. Schnell überschlug Nora im Kopf, dass der Umsatz hätte ausreichen müssen, um die Miete der Praxisräume, die Ausrüstung und die Gehälter von drei Personen zu decken.
Warum hatte der Betrieb Konkurs angemeldet? Zahnärzte gingen normalerweise nicht pleite. Außerdem war es eine etablierte Praxis gewesen, die seit vielen Jahren gut lief. So schnell konnte man doch nicht alle Patienten verlieren?
Nora studierte den Verwaltungsbericht und sah, dass Martinsson seine Praxis hoch beliehen hatte. Am Ende konnte er Zinsen und Tilgung nicht mehr aufbringen und musste
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