Tod im Schärengarten
noch Medizin studierte, für einen verwöhnten Oberschicht-Schnösel gehalten. Aber Nora liebte ihn, und Henrik hatte sich wirklich bemüht, seine schlimmsten Unarten abzulegen. Im Laufe der Zeit hatte Thomas einen Weg gefunden, mit Henrik auszukommen, aber sie fühlten sich nie sehr wohl miteinander. Inzwischen traf er sich meistens allein mit Nora, oder mit Nora und Simon, seinem Patenkind und Noras jüngstem Sohn, in den er ganz vernarrt war.
Thomas warf einen Blick auf den Wecker. Immer noch zwanzig Minuten, bis er klingeln würde, aber es war jetzt schon taghell. Carina hatte weiße Rollos vor den Fenstern. Sie ließen das Licht eher durch, als es auszusperren.
Er drehte sich auf den Rücken. Seine Gedanken schweiften zu den Ermittlungen und den Informationen, die sie bis jetzt zusammengetragen hatten. Dass Oscar Juliander ein lebenslustiger, viriler Knabe gewesen war, der sich gerne mit dem anderen Geschlecht umgab, war unbestritten. Damit hätten sowohl seine Frau als auch seine Freundinnen ein Motiv gehabt, ihn umzubringen. Oder warum nicht ein betrogener Ehemann? Eifersucht konnte ja eine starke Triebfeder sein.
Andererseits, warum sollte die Ehefrau sich den Mann vom Hals schaffen, der sie versorgte? Vermutlich hatte sie die Affären ihres Gatten jahrelang ertragen. Was hätte sie in dem Fall ausgerechnet an diesem Tag zu einem so drastischen Schritt bewegen sollen?
Sie mussten auf jeden Fall so schnell wie möglich mit der Ehefrau sprechen. Hoffentlich war sie heute zumindest so weit gefasst, dass man sie in aller Ruhe befragen konnte. Am Sonntag in Sandhamn waren alle Versuche an ihrem Schockzustand gescheitert, und bisher hatten ihre Ärzte kein Gespräch erlaubt.
Thomas’ Gedanken wanderten weiter zu der Klientenliste, die sie aus der Anwaltskanzlei bekommen hatten. Darauf waren mehrere Hundert Insolvenzen aus den letzten Jahren verzeichnet. Juliander musste eine Menge Geld verdient haben, so viel stand fest. Wie er das alles geschafft hatte, war eine andere Sache.
Er beschloss, Carina zu bitten, so schnell wie möglich Julianders Finanzlage zu überprüfen. Wo Geld war, gab es auch ein Motiv. Flüchtig ging ihm durch den Kopf, ob Rechtsanwälte wohl ehrlicher als andere Menschen waren oder einfach nur geschickter darin, ihre Einkünfte zu verschleiern, weil sie wussten, wie das System funktionierte.
Thomas sah wieder auf die Uhr. Höchste Zeit, aufzustehen und zu duschen. Ein Besuch in der Kanzlei Kalling stand als Erstes auf der Tagesordnung.
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Kapitel 13
Nora starrte misstrauisch das Telefon in ihrer Hand an. Die Nachricht auf der Mailbox war nicht misszuverstehen, aber sie konnte es trotzdem nicht glauben.
Der Mann vom Immobilienbüro Skärgårdsmakleriet bestätigte mit großem Enthusiasmus, dass er am nächsten Tag nach Sandhamn kommen werde, um sich das Objekt anzusehen und dessen Wert zu schätzen. Ob man wohl so freundlich sein könnte, ihn von der Fähre abzuholen?
Das Objekt? Er konnte wohl kaum etwas anderes gemeint haben als die Brand’sche Villa. Also hatte Henrik hinter ihrem Rücken einen Makler eingeschaltet, ohne vorher mit ihr zu reden. Sie konnte es kaum glauben, aber wer sonst hätte so ein Treffen arrangieren sollen?
Nora sank in den Korbsessel auf der kleinen Glasveranda. Vor den Fenstern drängten sich die Mårbacka-Geranien, die Erde in ihren Töpfen war trocken. Die Sonne hatte den ganzen Morgen darauf geschienen, sie brauchten dringend Wasser.
Warum hatte Henrik das getan?
Sie seufzte tief und ließ den Blick durch das Fenster zur Brand’schen Villa wandern, die nur einen Steinwurf von ihrem Haus entfernt aufragte. Sie konnte beinahe den Duft der Rosen riechen, die an den Hauswänden hochrankten. Die Rosenbüsche waren Signes Hätschelkinder gewesen.
Im vergangenen Herbst hatte Nora einen Traumjob in Malmö als Regionaljustiziarin ihrer Bank abgelehnt, zum großen Teil deswegen, weil Henrik sich nicht vorstellen konnte, aus Stockholm wegzuziehen.
Nach den aufregenden Ereignissen des Sommers war es ihr nicht allzu schwergefallen, das Angebot auszuschlagen. Sie war gesundheitlich und psychisch sehr mitgenommen gewesen, und außerdem hatte Henrik ihr gut zugeredet, ihren alten Job im zentralen Juristenstab der Bank zu behalten. »Du verträgst jetzt keine größerenVeränderungen«, hatte er gesagt. »Du musst erst wieder zu Kräften kommen.«
Aber im Winter, als sie nach und nach ihr Gleichgewicht wiederfand, hatte sie sich immer wieder gefragt, warum
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