Tod in Blau
Ansichten nicht
teile«, entgegnete Leo mit Unschuldsmiene.
»Aber es hätte dir
auch nicht leidgetan, ihn zu verhaften, oder?«
»Es wäre mir ein
Vergnügen gewesen.«
*
Paul tastete fieberhaft unter
seinem Pullover. Knistern. Das Papier war noch da. Keuchend hetzte er
zwischen den Bäumen hindurch, blieb mit dem Hemd an einem Zweig hängen
-die Mutter würde schimpfen, wenn sie den Riss sah. Er gelangte auf
die kahle Fläche mit den Baumstümpfen, rannte weiter, getrieben
von der Erinnerung an das schwarze, formlose Ding auf dem Boden. Er
glaubte, das Feuer zu spüren. Es näherte sich von hinten,
versengte sein Haar, leckte über seinen Rücken. Panisch schlug
er im Laufen mit der Hand auf sein Schulterblatt. Natürlich war da
nichts. Er hatte das Haus längst hinter sich gelassen.
Der Junge merkte kaum, dass
er in eine belebtere Gegend kam, und lief an den Menschen vorbei, ohne ein
Gesicht wahrzunehmen. Als er vor der Kneipe stand, war ihm, als hätte
ihn ein Zauber herversetzt, denn er konnte sich nicht mehr an den Weg
erinnern. Trotz der Novemberkälte rann ihm der Schweiß über
den Rücken. Sein Hosenbund fühlte sich klamm an. Suchend schaute
er sich um. Hineingehen mochte er nicht, er musste heute nicht arbeiten.
Ging er trotzdem hin, würde es aussehen, als wollte er um Essen
betteln. Nach Hause konnte er auch nicht. Der Vater würde es merken,
der merkte alles.
Ihm fiel der Kohlenkeller der
Kneipe ein. Er lief in den Hof, rüttelte an der Tür, zerrte am
Riegel, bis er sich knirschend zur Seite schieben ließ. Er glitt
hinein und zog die Tür hinter sich zu. Es war nachtschwarz und
schmutzig, die Mutter würde erst recht schimpfen, wenn er verdreckt
nach Hause kam. Doch das war egal, jetzt war alles egal.
Er saß auf dem
Kohlenhaufen, den Rücken an der kühlen Wand. Bruchstücke
von Bildern tanzten vor seinen Augen. Wie er hingegangen war, um seinem
Freund das Blatt zurückzugeben. Irgendwie fühlte er sich nicht
wohl, solange er nachts drauf schlief. Er hatte die Schnur abgemacht und
es flach unter die Matratze geschoben, aber wenn es nun doch jemand
entdeckte? Der Schlafbursche war ziemlich neugierig. Manche Bilder fand
Paul ja ganz schön, aber dieses hatte ihm von Anfang an nicht
gefallen. Es war überhaupt nicht bunt, nur Bleistiftstriche und ein
bisschen Blau, ziemlich langweilig. Darum hatte er es sich auch gar nicht
richtig angesehen. Komisch, dass er gerade das mitnehmen sollte.
Schon auf dem Hinweg hatte er
heute so ein eigenartiges Gefühl gehabt. Als wenn was nicht wäre
wie sonst.
Er war über den Zaun
geklettert, durch den Gemüsegarten gelaufen, in dem um diese
Jahreszeit nur ein paar Kohlstrünke vor sich hin faulten. Im Sommer
hatte er mal die viel zu blasse, hübsche Frau des Malers im Garten
gesehen, aber jetzt, im November, war es ihr wohl zu kalt. Der Maler war
ohnehin meist allein in dem kleinen Haus. Es war ja nicht zum Wohnen, er
arbeitete nur darin. Der Junge schlang die Arme um den Körper, drückte
sich enger an die Wand und schloss die Augen.
Sonst ging er immer einfach
ins Haus, das sein Freund Atelier nannte. Drinnen war es hell, die großen
Fenster im Dach ließen selbst im Herbst noch Licht herein, weil sein
Freund immer raufkletterte und die Blätter wegfegte. Doch diesmal war
alles anders gewesen.
Auf den ersten Blick wirkte
alles unberührt. Die weißen Mauern sahen traurig und verlassen
aus, als hätte das Haus seine Wärme und Lebendigkeit verloren.
Dann hatte er sich zögernd
der Tür genähert. Sie war nur angelehnt. Es roch komisch, nicht
wie sonst nach Leinöl und Terpentin. Diese Wörter hatte ihm sein
Freund erklärt. Ein schwarzer Geruch, das war es. Konnte man Farben
riechen?
Vorsichtig lugte Paul um die
Tür. Wich entsetzt zurück. Mitten im vertrauten Raum züngelten
Flammen empor. Am Boden lag eine Gestalt, schwarz, verkrümmt, reglos.
Etwas zwang ihn, näher
zu treten. Noch näher. Die Gestalt lag auf dem Rücken, die Beine
gespreizt und leicht angewinkelt. Der linke Arm reckte sich ins Leere,
dorthin, wo einmal die Staffelei gestanden hatte.
*
Paul versuchte, an etwas
anderes zu denken. Vor langer Zeit hatte er die Rehberge für sich
entdeckt. Die Gegend faszinierte ihn, eine Sandwüste mitten in
Berlin. Früher hatten dort Bäume gestanden, doch vor ein paar
Jahren, als der schlimme Winter war, hatten die Leute
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