Tod in Blau
den Entwurf aus dem
Gedächtnis ein zweites Mal auf die Leinwand zu übertragen.
Paul stürzte aus dem
Atelier, den Geldschein fest umklammert, und malte sich aus, was er davon
alles kaufen konnte. Bonbons, ganz viele, vielleicht reichte es auch noch
für eine echte Steinschleuder oder
Sammelbildchen. Zuvor aber musste er nach Hause und das aufgerollte Blatt
verstecken, das hatte er dem Maler schließlich versprochen. Er war
so aufgeregt, dass er beinahe mit einem Mann im Wintermantel
zusammenprallte, der reglos im Schatten der Bäume stand. Paul konnte
ihm gerade noch ausweichen und stürmte voller Vorfreude davon.
6
Der Novemberregen glitzerte
im Licht der Straßenlaternen. Auf der Friedrichstraße waren
nur wenige Leute unterwegs, doch die Tanzsäle und Varietés,
die Theater und Kabaretts waren hell erleuchtet. Ein paar Betrunkene, die
in Hauseingängen schliefen, schreckten hoch, als die Lastkraftwagen
von allen Seiten heranrollten. Von der Weidendammer Brücke bis zur
Leipziger Straße tauchten sie in allen Seitenstraßen auf und
riegelten diese ab, bis niemand mehr ungesehen in die Friedrichstraße
hinein- oder aus ihr hinausgelangen konnte. Es war kurz vor Mitternacht,
die übliche Zeit für eine Razzia in dieser Gegend.
Oberkommissar Albrecht stand
in Hut und Regenmantel mitten auf der Fahrbahn und teilte die
Hundertschaft Schutzpolizei ein. Die Männer fächerten sich auf
und stürmten in die umliegenden Vergnügungspaläste. Wer
keinen Ausweis mit Lichtbild vorzeigen konnte, wurde auf den nächsten
Lastwagen verladen und zum Polizeipräsidium gefahren. Und das waren
die allermeisten, da zahllose gefälschte Papiere wie Militärpässe,
Geburtsurkunden und Meldescheine in Umlauf waren, in die man nach Belieben
Namen und Geburtsdatum eintragen konnte.
Ein Schutzpolizist hielt
einen älteren Mann an, der aus einem beliebten Varieté kam.
»Den Ausweis, bitte.«
»I beg your pardon, but
this must be a mistake«, sagte der gut gekleidete Herr, der einen
Regenschirm unter den Arm geklemmt hatte und nun in seiner Brieftasche zu
wühlen begann. »Please let me show you my …«
Der Schupo warf einen Blick
auf den Diplomatenpass und salutierte. »Verzeihung, der Herr.«
Der britische
Regierungsvertreter lächelte nachsichtig und zog mit aufgespanntem
Schirm von dannen. Zum Glück reagierte der ehrliche Teil der Berliner
Bevölkerung in der Regel ähnlich gelassen auf die Razzien, mit
denen die Polizei gegen die wuchernde Kriminalität ankämpfte.
Die Razzia war ein voller
Erfolg. Die Polizei beschlagnahmte umfangreiches Diebesgut und kassierte
zahlreiche »Flebben«, gefälschte Ausweispapiere aller
Art. Nur mit einem Ausweis kam man an eine Wohnung, eine Arbeitsstelle
oder rationierte Lebensmittel, und gegen Geld, besser noch Devisen oder
andere Wertsachen, war in gewissen Kreisen alles zu haben - Militärpässe,
Geburtsurkunden, Meldescheine und Brotkarten.
Im Präsidium wurden die
Beutestücke sorgfältig aufgelistet und mit den Gegenständen
abgeglichen, die bei Einbrüchen und Raubüberfällen als
gestohlen gemeldet worden waren.
Zwei Tage später fand
Leo die Liste wie üblich auf seinem Schreibtisch vor und warf einen
flüchtigen Blick darauf, blieb aber an einem Posten hängen. Er
ging rasch ins Vorzimmer und legte Walther das Blatt hin: »Post von
der Inspektion B, Robert. Ich glaube, wir können die Akte Bremer demnächst
schließen.«
»Eine goldene
Taschenuhr mit Kette, Gravur auf dem Innendeckel: »Meinem Neffen
Carl zur Konfirmation, 12. April 1912«, las Walther vor. »Also
doch ein Überfall.«
»Sieht so aus«,
meinte Leo. »Sie haben die Uhr bei Keulen-Theo gefunden, einem alten
Bekannten der Einbruchsinspektion. Als gewalttätig bekannt, hat schon
dreimal in Tegel eingesessen. Konnte nicht überzeugend erklären,
woher er das gute Stück hat. Wir müssen die Uhr noch Bremers
Chef zeigen und Theos Alibi für den fraglichen Tag überprüfen,
aber das dürfte eher eine Formsache sein.« Er heftete den Beleg
in die Akte Bremer. »Wie gern hätte
ich diesen von Mühl noch mal in die Zange genommen«, meinte er
seufzend. »Sein Verein ist mir immer noch nicht geheuer.«
»Alles andere hätte
mich auch gewundert«, sagte Walther und zündete sich eine
Zigarette an.
»Ich würde nie
einen Menschen verurteilen, nur weil ich seine politischen
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