Tod in Blau
kostet auch Geld.« In diesem
Augenblick bekam der kleine Junge wieder einen quälenden
Hustenanfall. »Na ja, ich werd wohl doch mal zu der Frau gehen, auch
wenn der Vater schimpft. Das Fuhrunternehmen hat gesagt, es gibt keine
Arbeit mehr. Jetzt steht er wieder mit der Karre am Bahnhof.«
Pauls Vater war Fuhrmann,
doch gab es immer weniger Arbeit, weil immer weniger Waren ausgefahren
wurden. Darum verdiente der Vater kaum Geld und hatte dadurch schlechte
Laune. Er hatte sich eine zweirädrige Karre gekauft und dafür
Schulden gemacht, die er mit Aufträgen für ein Fuhrunternehmen
in der Ackerstraße wieder hereinholen wollte. Doch es kamen keine
Aufträge mehr, und so standen er und viele andere an den Bahnhöfen
und warteten auf Reisende, die wohlhabend genug waren, um ihr Gepäck
gegen Bezahlung befördern zu lassen.
Wieder erklang der rasselnde
Husten. Die Mutter legte sich den Kleinen über die Schulter und
klopfte ihm verzweifelt auf den Rücken. Sie merkte gar nicht, was mit
Paul los war. Dass etwas von innen an seinem Bauch
nagte, das schlimmer als der Hunger war.
Trotzdem war er froh, dass
der Vater mit seinen scharfen Augen noch nicht zu Hause war. Die guckten
manchmal wie Messer. Vor allem, wenn er seinen älteren Sohn ansah.
Paul ging in die Ecke der
Stube, zu seinem Bett. Der andere Raum war die winzige Schlafkammer seiner
Eltern, in der auch Mutters Nähmaschine stand. Manchmal sagte sie,
demnächst klebt der Kuckuck drauf, aber er wusste nicht, was sie
damit meinte.
Der Schlafbursche lag drin,
nur das zerzauste Haar war zu sehen. Dann eben nicht. Er holte seine Jacke
und ging hinunter in den Hof.
*
Leo Wechsler hielt unwillkürlich
die Luft an, als er das Atelier betrat. Wenn er einen Tatort besichtigte,
versuchte er stets, dem Menschen nachzuspüren, der dort gestorben
war. Manchmal war ihm, als hätte der Tote etwas zurückgelassen,
und bisweilen fragte er sich, ob an Orten, an denen Menschen künstlerisch
gearbeitet hatten, auch ein Hauch ihrer Phantasie und Gestaltungskraft zurückblieb.
Er war so in Gedanken
versunken, dass er kaum bemerkte, wie die Kriminalassistenten Stahnke und
Berns, der Polizeifotograf Klaus Zeitler und Fräulein Meinelt, die
das Protokoll aufnehmen würde, den Raum betraten und sich mit
Erichsen bekannt machten.
Der Fotograf stellte das
Stativ auf und packte die Kamera aus, bevor er sich abwartend Leo
zuwandte. Stahnke und Berns nahmen eckige Metalldosen aus ihren
Aktentaschen, die das Spurensicherungsbesteck enthielten.
»Wurde an der
Brandstelle irgendetwas verändert?«, fragte Leo, nachdem er
sich gründlich umgesehen hatte.
Erichsen nickte bedauernd.
»Da wir zunächst von einem Unglücksfall ausgegangen sind,
wurden einige Möbelstücke beiseite geräumt.
Die Lage der Leiche haben wir mit Kreide markiert; die verbrannten Reste,
die wir noch nicht identifizieren konnten, befinden sich dort drüben.«
Leo seufzte leise. Die
Feuerwehr hatte ganze Arbeit geleistet und dabei womöglich wertvolle
Spuren vernichtet. Auf einem Tisch lag ein Kanten Brot, daneben ein Stück
dunkel angelaufene Leberwurst samt Messer. Ein Glas enthielt noch
eingetrocknete Spuren einer roten Flüssigkeit, vermutlich Wein. Nur
der schwarze Fleck mitten im Raum ließ erahnen, was sich in diesem
Haus abgespielt hatte. »Seht euch zuerst die Brandstelle an. Ich
komme gleich.«
Er ging an den Wänden
entlang und blieb vor den Bildern stehen. Viele waren es nicht. Von den
meisten war nur die Rückseite zu sehen, das Holz, die Nägel, mit
denen die Leinwände auf die Rahmen gespannt waren. Die Initialen AW,
dazu Monats- und Jahreszahlen, manchmal auch ein Titel.
Leo zog Handschuhe an und
begann, die Bilder nacheinander umzudrehen. Viele waren Porträts oder
Großstadtszenen, die meisten in der Art, die er von Wegner kannte.
Nasse Straßen, in denen sich das Licht der Laternen spiegelte.
Gebeugte Gestalten in Hauseingängen oder den matt beleuchteten Türen
der Kellerkneipen. Ein Bettler, der dem Betrachter seine schlecht
verheilten Armstümpfe entgegenstreckte. Junge Prostituierte in
durchscheinenden Kleidern, bei denen nur die Gänsehaut auf den
mageren Armen fehlte. Er drehte das letzte Bild um, in Gedanken schon
woanders, hielt dann aber unvermittelt inne. Trat einen Schritt zurück.
Es war wunderschön, und
wäre nicht die Signatur gewesen, hätte man einen
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