Tod in Blau
Kaiser
zurück. Die Armee, das Rückgrat des Staates, wurde
zurechtgestutzt, bis praktisch nichts mehr davon übrig blieb.«
Solche Äußerungen
brachten Leo längst nicht mehr in Rage. Solange die Reaktionären
bloß redeten, hielt sich die Gefahr in Grenzen. Nur dass manche es
nicht beim Reden beließen. Erst im Sommer hatten sie Außenminister
Rathenau auf offener Straße erschossen. »Ich kann Ihre
nostalgischen Erinnerungen an das Soldatenleben nicht teilen, Herr
Oberstleutnant, aber Sie sind immerhin noch in Amt und Würden.
Anscheinend waren Sie für die neue Republik unverzichtbar. Doch
vielleicht sollten wir nun zum Thema Kunst zurückkehren.«
Von Mühl schlug mit der
Hand auf die Armlehne seines Sessels. »Die Kunst von heute ist nur
ein weiterer Ausdruck unserer kranken Gesellschaft. Arnold Wegner war ein
Beispiel dafür. Er hat als Soldat tapfer im Feld gestanden, und nach
dem Krieg fiel ihm nichts Besseres ein, als alles zu malen, was hässlich
und beschämend ist an Deutschland. Wozu solche Bilder? Reicht es
nicht, das Elend jeden Tag auf der Straße zu sehen? Muss man das
auch noch als Kunst verkaufen? Ich bitte Sie.«
Leo behielt seine Ansichten
über Kunst wohlweislich für sich und fragte: »Ist Ihnen
bekannt, ob Wegner Feinde hatte? Ob es Menschen gab, deren Abneigung gegen
ihn weit genug ging, um ihm nach dem Leben zu trachten?«
Von Mühls Augen
verengten sich zu Schlitzen. »Sie wollen doch nicht -«
»Keineswegs. Ich frage
lediglich, ob Ihnen Leute bekannt sind, auf die dies zutrifft. Wir
befinden uns noch am Anfang unserer Ermittlungen. Bei dieser Gelegenheit wüsste
ich allerdings gern, wo Sie sich am Nachmittag und Abend des 21. November
aufgehalten haben.«
Von Mühl erhob sich
betont langsam und trat an einen Servierwagen, auf dem mehrere
geschliffene Kristallkaraffen standen. Dort schenkte er sich einen großzügigen
Cognac ein -erneut ohne Leo etwas anzubieten -, schwenkte genießerisch
das Glas und nahm einen Schluck, bevor er sich wieder in den Sessel
setzte.
Leo bewahrte Ruhe. Die
demonstrative Überlegenheit, mit der Vertreter der ehemals oberen
Klasse zuweilen auftraten, war ihm nicht neu. Dennoch war ihm der Mann
mehr als nur unsympathisch. »Nun?«
»Lassen Sie mich überlegen.
Der 21. - was für ein Wochentag war das doch gleich?«
»Ein Dienstag, Herr von
Mühl.«
»Hm, Augenblick, da war
ich bei meiner Schwester zum Abendessen eingeladen. Sie ist Kriegerwitwe
ohne Kinder und freut sich, wenn sie dann und wann für mich kochen
kann.« Er betrachtete seine Fingernägel. »Es gab Zeiten,
da hatte sie es nicht nötig, selbst am Herd zu stehen, aber
heutzutage ist eine gute Köchin beinahe unbezahlbar. Und Marions
Schweinebraten unvergleichlich.«
»Sie selbst sind auch
alleinstehend?«, warf Leo, den die Kochkünste der Schwester nur
am Rand interessierten, rasch ein.
Ulrich von Mühl trank
seinen Cognac aus. »Ja, das ist richtig.« Sein Tonfall ließ
erkennen, dass er nicht gern über dieses Thema sprach.
»Nun gut. Ihre
Schwester wird uns diese Aussage sicher gern bestätigen«,
meinte Leo beiläufig.
Von Mühl stellte sein
Glas ab, ein wenig zu laut, wie Leo fand. »Selbstverständlich.
Aber ich verstehe nicht, wieso Sie Marion damit belästigen wollen, es
würde sie nur -«
»Ich habe nicht vor,
Ihre Schwester zu belästigen, das ist nicht meine Art«, sagte
Leo kühl und stand auf. »Sollte Ihnen noch etwas zu Arnold
Wegner einfallen, rufen Sie mich bitte im Präsidium an.« Er
legte seine Karte auf den Servierwagen. »Sie brauchen mich nicht
hinauszubegleiten.«
*
Walther stand unschlüssig
vor dem Haus in der Hochmeisterstraße, das zugeklappte Notizbuch in
der Hand. Er war bei Nelly Wegner gewesen und hatte sie nach dem Jungen
gefragt, den Thea Pabst erwähnt hatte. Sie erinnerte sich flüchtig,
ihn einmal beim Atelier gesehen zu haben, konnte aber nur eine sehr
allgemeine Beschreibung von ihm liefern. Schmächtig für sein
Alter, ärmlich gekleidet, braunes Haar - das traf vermutlich auf
tausende Kinder im Wedding zu. Wegner hatte ihn ab und an einmal erwähnt,
aber Nelly wusste auch nicht mehr als den Vornamen, Paul. Sie mochte
anscheinend nicht gern darüber sprechen, dass ihr Mann sich mit einem
Jungen angefreundet hatte, während er keine eigenen Kinder wollte.
Also würde Leo nichts anderes übrig bleiben, als einige
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