Tod in Blau
Ihren Arbeitsplatz auch
einmal in Augenschein nehmen.«
»Er ist leider sehr
viel prosaischer als der Ihre«, meinte Leo mit einem letzten Blick
durch den Raum.
*
Paul hetzte in die nächste
Hofeinfahrt. Blieb mit klopfendem Herzen stehen. Schaute vorsichtig um die
Ecke. Der Mann stand auf dem Gehweg und sah sich suchend um. Paul wusste
nicht, was er von ihm wollte, aber er hatte ihn im Vorbeigehen so seltsam
angesehen. Auf einmal hatte er eine Hand am Rücken gespürt und
war einfach losgerannt. Hatte er den Mann schon mal gesehen? Er war sich
nicht sicher. Der hatte so feine Kleider an, ganz anders als die Leute
hier. Eigentlich sollte er ja zur Frau Doktor gehen und nach der Medizin für
Berti fragen, aber er traute sich nicht aus der Einfahrt raus, weil der
Mann da stand.
Plötzlich fiel ihm ein,
dass es schon spät war. Wenn er nun zu lange wartete und die Frau
Doktor gar nicht mehr da war, wenn er hinkam? Die Mutter würde
schimpfen, der Vater wieder den Riemen aus der Küchenschublade holen.
Paul biss sich auf die Lippen. Er passte einen Augenblick ab, in dem der Mann in die andere Richtung sah,
presste sich an die Hauswand und arbeitete sich zum nächsten Eingang
vor. Blick nach rechts, der Mann entfernte sich langsam.
Paul atmete auf. Noch ganz außer
Atem stolperte er in die Praxis, wo die Ärztin gerade den Mantel
überziehen wollte. »Was willst du denn hier? Ich habe
geschlossen«, sagte sie eher müde als unfreundlich.
Paul trat von einem Fuß
auf den anderen. »Ich hab's nicht eher geschafft. Da war ein Mann,
der hat mich so komisch angeguckt. Und der Berti braucht wieder Medizin.
Meine Mutter war schon mal mit ihm bei dir.«
»Dann musst du morgen
wiederkommen. Ich habe noch Hausbesuche zu machen.« Sie schaute ihn
bedauernd an und wollte ihn sanft zur Tür schieben, doch Paul stemmte
sich mit den Füßen dagegen.
Magda Schott musterte den
Jungen, der seltsam geduckt dastand, und lächelte schließlich.
»Du bist ja ganz außer Atem. Und hast Seitenstiche, was? Komm
mal mit rein.«
Das Behandlungszimmer war
einfach eingerichtet, weiße Metallmöbel, Schränke mit
vielen braunen Flaschen, eine Waage, eine Liege, ein Waschbecken in der
Ecke.
»Wie heißt dein
Bruder?«
»Berti Görlich. Er
hat's auf der Brust.«
»Ach ja.« Sie
nahm eine Flasche aus einem Wandschrank und gab sie ihm. Paul wühlte
in der Hosentasche nach dem Geld, das seine Mutter ihm gegeben hatte, doch
sie winkte ab.
»Die kostet nichts.
Nimm sie mit. Dreimal am Tag zehn Tropfen. Kannst du das behalten?«
Er nickte erneut und ging zur
Tür. Wie aus einem Impuls heraus drehte er sich noch einmal um und
sagte: »Ich hatte mal einen Freund, der hat bunte Bilder gemalt.
Aber der ist gestorben.«
»Das tut mir leid.«
Er lief, die Medizinflasche
fest umklammernd, zur Tür.
Dort zögerte er, steckte
den Kopf hinaus und schaute vorsichtig nach links und rechts, bevor er
sich nach draußen wagte.
Als Leo Wechsler in die
Emdener Straße einbog, winkte ihm sein Freund Joachim Kern zu, der
gerade aus der Eckkneipe kam. Sie gaben sich die Hand. Joachim war überzeugter
Kommunist, was ihrer Freundschaft nie im Wege gestanden hatte, doch Leo
wusste, dass manche seiner Kollegen diese Verbindung missbilligt hätten.
»Lange nicht gesehen, Leo.«
»Hab viel zu tun.«
»Bist du etwa mit
diesem Maler zugange, der die scheußlichen Bilder von den dekadenten
Bonzen gemalt hat?«, fragte Kern.
Leo grinste. Aus diesem
Blickwinkel hatte er die Sache noch gar nicht betrachtet. »Gut
geraten, Joachim.« Sie gingen ein Stück nebeneinanderher. Der
Wind wirbelte die letzten braunen Blätter über das Pflaster,
selbst die Kinder waren aus Toreinfahrten und Innenhöfen
verschwunden, weil es zu ungemütlich wurde. Nur eine Frau mit einem
dicken Schal um den Kopf stand an der Pumpe und holte Wasser.
»Ich wusste gar nicht,
dass du die kapitalistischen Blätter liest, die über so etwas
berichten. Wie steht es denn mit dem Weltkongress der Internationale?«
»Willst du mich auf den
Arm nehmen?«
»Ach was. Ihr habt in
vielem recht, aber…«
»Aber?«
Leo schlug ihm auf die
Schulter. »Das kann ich dir nicht zwischen Tür und Angel erklären,
schon gar nicht bei diesem Sauwetter. Lass uns demnächst mal ein Glas
zusammen trinken.« Sie verabschiedeten sich herzlich, dann betrat
Leo den Hausflur.
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