Tod in Blau
adoptiert werden?«
Sie schaute ihn ein wenig
bedauernd an. »Leider viel zu selten. Wir haben zumeist ältere
Kinder und Halbwüchsige, die sehr schwer zu vermitteln sind. Wenn Sie
bedenken, was viele dieser Kinder in ihrem kurzen Leben
schon durchgemacht haben, verwundert es nicht, dass niemand sie aufnehmen
möchte. Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit, Misshandlung, Unzucht. Mit
ihnen ist es wie mit den Katzen, da wollen die Leute auch am liebsten die
niedlichen Jungtiere haben.« Der Ausdruck in ihren Augen strafte die
abgebrühten Worte Lügen. Wenn sie den ganzen Tag mit Kindern zu
tun hat, die eigentlich niemand haben will, musste sie sich wohl einen
gewissen Schutzschild zulegen, dachte Walther.
»Ich möchte
wissen, ob sich in letzter Zeit eine Dame bei Ihnen gemeldet hat, die ein
Kind aufnehmen möchte.«
Sie nickte sofort. »Vor
kurzem war tatsächlich jemand hier. Sie hat sogar schon mit einem
kleinen Mädchen gesprochen.«
Walther beugte sich gespannt
vor. »Wie hieß die Frau?«
»Augenblick, ich kann
es Ihnen genau sagen.« Fräulein Müller holte ein
Registerbuch aus der Schreibtischschublade und schlug es auf. »Ja,
hier steht es. 21. November 1922, nachmittags um vier. Eine Frau Wegner,
die ein Kind zu adoptieren wünscht. Sie gab an, es müsse kein Säugling
sein, ein Kind bis fünf Jahre sei ihr durchaus genehm. Ich bin mit
ihr durch die Spielzimmer gegangen, damit sie sich die Kinder einmal
anschauen kann. Unsere fünfjährige Adele kam zu ihr gelaufen und
hat sie etwas gefragt. Ich konnte spüren, dass sie die Kleine sofort
ins Herz geschlossen hat.« Sie blickte hoch und fragte besorgt:
»Stimmt etwas nicht mit dieser Frau?«
Walther schüttelte den
Kopf. »Das kann ich noch nicht sagen. Erwähnte sie in diesem
Gespräch auch ihren Mann?«
»In der Tat. Ich fragte
natürlich, ob sie verheiratet sei, was sie bejahte. Dann erkundigte
ich mich, weshalb ihr Mann nicht mitgekommen sei, eine derartige
Entscheidung müsse man doch gemeinsam treffen. Worauf sie erklärte,
er sei verhindert, daher wolle sie sich schon einmal allein umsehen. Ich
habe mir nichts dabei gedacht.«
»Das mussten Sie auch
nicht, Frau Müller. Die Anfrage war absolut legitim, und es ist
durchaus denkbar, dass meine Ermittlungen nichts ergeben. Eines würde
mich aber interessieren: Haben Sie Frau Wegner gesagt, dass sie für
eine Adoption die Zustimmung ihres Ehemannes benötigt?«
»Selbstverständlich.«
Frau Müller klappte das Registerbuch zu und verschränkte die Hände
darüber. »Darf ich fragen, worum es eigentlich geht? Ich bin für
diese Kinder verantwortlich. Sie sind schon oft enttäuscht worden.«
Walther stand auf und sagte
bedauernd: »Leider handelt es sich um eine laufende Ermittlung. Ich
gebe Ihnen aber Bescheid, ob Frau Wegner vertrauenswürdig ist.«
»Vielen Dank. Es geht
um die Zukunft eines Kindes, da muss alles seine Richtigkeit haben.«
Wie recht sie damit hatte.
*
Das Haus war grau und
unansehnlich, es schien zu erbeben, wenn eine Straßenbahn
vorbeiratterte. Selbst um diese Zeit drang kein Tageslicht in die
verqualmte Kellerkneipe in der Weinmeisterstraße. Leo Wechsler war
vom Präsidium aus zu Fuß gegangen, wobei ihm von dem strammen
Marsch ganz schön warm geworden war. Er stieg die drei Stufen zum
Eingang hinunter, wo ihm ein warmer, abgestandener Dunst aus Bier und
billigem Tabak entgegenschlug. Er nahm den Schal ab und knöpfte den
Mantel auf, bevor er sich umsah. Der Wirt stand in einer Ecke und tätschelte
eine jugendliche Prostituierte, deren Kleid mehr enthüllte als
verbarg. Er schien den neuen Gast gar nicht zu bemerken.
Leo war auch gar nicht an ihm
interessiert. Er ließ den Blick durch den verwinkelten Raum
schweifen, der von einigen Funzeln notdürftig erhellt wurde. Die
Kneipe war verlassen, nur vor einer Nische drängten sich zahlreiche
Menschen. Stimmengewirr war zu hören, auch Schimpfworte, jemand
schubste, ein anderer trat. Leo rutschte auf die Sitzbank der
Nachbarnische und schaute in aller Ruhe über die Trennwand zu, wie Adalbert Kreutzer, in
diesen Kreisen nur als Glücksrad-Adi bekannt, seinem Gewerbe
nachging.
Vor sich auf dem Tisch hatte
er eine dunkelblaue Wachstuchdecke ausgebreitet, auf die er mit Kreide
Quadrate gezeichnet hatte. Jedes war mit einer bunten Zahl gekennzeichnet.
Daneben lag ein kleines Holzrad, ebenfalls mit Zahlen
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