Tod in Blau
aus, wenn sich ein ermittelnder
Kriminalkommissar mit der geschiedenen Frau eines Verdächtigen traf.
Leo seufzte und zwang sich,
wieder an die Arbeit zu denken. Im Büro wartete Walther schon mit
einer Liste der Berliner Kinderheime und Waisenhäuser auf ihn. Leo
überflog die Liste. Walther hatte alle Einrichtungen, die in der Nähe
der Wegnerschen Wohnung und des Ateliers lagen, mit Rotstift markiert.
»Kinderheim des St.-Marien-Stiftes, Ackerstraße, Gesundbrunnen«,
das war nicht allzu weit vom Prenzlauer Berg entfernt, wo die Wegners
wohnten. Er kannte das Haus, ein ansehnlicher roter Ziegelbau mit Erkern,
Balkonen und Türmchen, der gar nicht so düster aussah wie andere
Kinderheime und Waisenhäuser.
Dann folgte das »Markus-Stift
für elternlose Kinder, gegründet 1867, Türkenstraße
12A, Berlin-Wedding«. Er trat vor den großen Stadtplan, der an
der Wand hing, suchte die Türkenstraße und stieß
einen leisen Pfiff aus. Eine Nebenstraße der Müllerstraße,
in der Nelly Wegner den Schirm gekauft hatte, kurz bevor sie die Leiche
ihres Mannes fand. Walther nickte und griff schon nach Mantel und Hut.
»Einen Versuch ist es wert.«
Walther nahm die Ringbahn zum
Bahnhof Wedding und ging die Müllerstraße Richtung Norden
hinauf. Vor einem großen Tor drängten sich die Menschen,
darunter viele Kinder, die um eine riesige Traube Luftballons standen und
begehrlich zu ihr hinaufblickten. Über dem Tor war ein Brett mit zwei
Türmchen angebracht, auf dem »Berliner Nordpark -Zum Onkel
Pelle« zu lesen war. Ein stadtbekannter Rummelplatz, der einem
Zirkusclown gehörte. Eine handbeschriebene Anschlagtafel verkündete,
welche starken Männer aus welchen Ländern an diesem Tag in der
»geheizten Halle« gegeneinander antreten würden. Walther
lief das Wasser im Mund zusammen, als ihm der Duft von Zuckerwatte und
kandiertem Obst in die Nase stieg, doch er zwang sich, weiterzugehen.
An der Kreuzung Seestraße
kündigte ein Lichtspielhaus mit schwülstigen Plakaten in
knalligen Farben Das Weib des Pharao an, vor dem Eingang hatte sich trotz
der Kälte eine lange Schlange gebildet. Selbst hier im armen Wedding
hatten die Menschen immer noch genügend Geld, um für ein, zwei
Stunden der Wirklichkeit zu entfliehen. Walther zog sich den Schal fester
um den Hals und ging bis zur nächsten Ecke, wo er sich vor einem großen,
abweisenden Gebäude wiederfand.
Von innen erwies sich das
Markus-Stift als weitaus freundlicher. Die Flure waren hell gestrichen, an
den Wänden hingen Kinderzeichnungen, und die Aufseherinnen trugen
keine strenge Anstaltstracht, sondern blaue Kittel mit weißen
Kragen.
Walther meldete sich an der
Pforte an, wo man ihn bat, einen Moment zu warten. An einer Anschlagtafel
hingen Bitten um Spenden, man benötigte Lebensmittel, Kinderkleidung, Heizmaterial und vieles mehr. Als
Schritte hinter ihm auf dem Steinboden erklangen, drehte er sich um.
Eine jüngere Frau in
dunklem Kostüm, die eine Brille an einer silbernen Gliederkette um
den Hals trug, trat auf ihn zu. »Herr Walther?« Sie streckte
ihm die Hand hin. »Ich heiße Eva Müller und bin die
Leiterin des Stifts. Kommen Sie doch bitte mit in mein Büro.«
Sie führte ihn durch
eine zweiflügelige Holztür in einen Flur, in dem Porträts
hingen, strenge Herren in dunklem Anzug und Vatermörder, teils noch
mit Backenbart, die vermutlich frühere Stiftsleiter darstellten. Da
bot Fräulein Müller doch einen weit erfreulicheren Anblick. Sie
öffnete eine Tür, an der in einem kleinen Metallrahmen ein
Schild mit ihrem Namen steckte, und bot ihm einen Platz an.
Zimmerpflanzen, bunte Bilder
an den Fenstern, schlichte Möbel aus hellem Holz - der ganze Raum
strahlte Wärme und Freundlichkeit aus.
»Die Kinder kommen
bestimmt gern zu Ihnen, wenn sie etwas auf dem Herzen haben«, sagte
Walther impulsiv.
Sie lächelte. »Ich
kann auch streng sein. Aber Sie haben recht, ich bemühe mich um eine
ansprechende Umgebung, die Kindern keine Furcht einflößt. Viele
sind ohnehin sehr verängstigt, und die finsteren, feuchten Waisenhäuser,
die wir von früher kennen, machten das nur noch schlimmer. Die Zeiten
von Oliver Twist sind hoffentlich vorbei, jedenfalls bei uns.«
Walther setzte sich und holte
sein Notizbuch aus der Tasche.
»Womit kann ich Ihnen
behilflich sein?«
»Kommt es vor, dass
Kinder aus Ihrem Haus
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