Tod in Blau
erst
einmal gar nichts. Georg hielt im Schreiben inne, schaute aber nicht auf.
Sein Vater warf einen Blick
auf die Arbeit. »Schriftliches Dividieren?«
Georg nickte.
»Fällt dir das
schwer?«
Achselzucken.
»Damit habe ich früher
auch Probleme gehabt«, sagte Leo vorsichtig. Er erinnerte sich mit
Grauen an die Nachmittage, an denen er über den Hausaufgaben gebrütet
hatte, vor allem während seiner Gymnasialzeit. Er hatte darum gekämpft,
statt der Volksschule das Gymnasium zu besuchen, was seinen Eltern sehr
schwergefallen war. Doch ohne Abitur hätte er nie Kommissar werden können,
die meisten seiner Kollegen hatten sogar studiert. Dafür hatte das
Geld bei Wechslers dann doch nicht gereicht.
Und anders als die Väter,
die Rechtsanwälte und Ärzte waren, konnten seine Eltern ihm
nicht bei den Schulaufgaben helfen. Auch die Lehrer ließen ihn mehr
als einmal spüren, dass der Sohn eines Gemüsehändlers aus
Moabit eigentlich nichts in ihrer Klasse zu suchen hatte. Leo würde
nie vergessen, wie sein Vater einmal in Hemdsärmeln vor ihm
gestanden, einen Blick auf die Algebraaufgaben geworfen und achselzuckend
gesagt hatte: »Ich kann mit Kartoffeln und Birnen rechnen, aber
nicht mit Buchstaben.«
»Es tut mir leid«,
sagte Leo leise. Warum fiel es ihm manchmal so schwer, sich zu
entschuldigen? Auch Kinder hatten ein Recht auf eine Entschuldigung, das
war immer sein Prinzip gewesen, und er konnte Ungerechtigkeit in der
Familie ebenso wenig ertragen wie bei der Arbeit.
»Schon gut.«
»Nein, ist es nicht.
Aber du hättest mich fragen können, dann hätten wir
zusammen geübt.«
»Du hast immer so viel
zu tun, da wollte ich dich nicht stören.«
Leo legte Georg die Hand
unters Kinn und drehte seinen Kopf so, dass der Junge ihn anschauen
musste. »Selbst wenn ich schlechte Laune habe, sollte ich dich nicht
so anfahren. Du hast eine Arbeit in den Sand gesetzt, das kann passieren.
Ist bei mir auch vorgekommen. Aber du musst mir versprechen, mich rechtzeitig zu fragen, wenn du
noch mal etwas nicht verstehst, ja? Egal, wie anstrengend mein Tag im Büro
war. Und in die Urania gehen wir trotzdem. Einverstanden?«
Georg nickte und schob ihm
das Schulbuch hin. Leo rückte näher an ihn heran und begann,
seinem Sohn das schriftliche Dividieren zu erklären.
20
Das Wetter war ebenso trüb
wie die politische Stimmung. Die neue Reichsregierung unter Kanzler Cuno
hatte beschlossen, um einen Aufschub der Reparationszahlungen zu bitten,
mit der Begründung, dass es die Inflation unmöglich mache, die
Zahlungen zu erbringen. Frankreich und England warfen der deutschen
Wirtschaft vor, die Geldentwertung absichtlich in die Höhe zu
treiben, um sich vor den Reparationen zu drücken. Die Franzosen
drohten mit einer Besetzung des Ruhrgebiets, falls die Zahlungen nicht
wieder aufgenommen würden. Bäckereien wurden geplündert,
Menschen protestierten gegen Wucherpreise bei Lebensmitteln, und in Moabit
demonstrierten Hausfrauen vor Betrieben, die den Ehemännern besonders
schlechte Löhne zahlten.
Auch der herannahende Winter
machte den Menschen Angst. Woher sollten sie Holz und Kohle nehmen? Wer
keinen Schrebergarten besaß und rechtzeitig Obst und Gemüse
eingekocht hatte, musste fürchten, in der kalten Jahreszeit zu
hungern.
Robert Walther gehörte
zu den Glücklichen, die einen Schrebergarten und damit auch einen
Keller voller Einmachgläser mit Bohnen, Pflaumen und Stachelbeeren,
Schütten mit Kartoffeln und Regale mit Äpfeln und Kohlköpfen
besaßen. Er hatte einer Nachbarin einen Teil seiner Ernte
versprochen, wenn sie für ihn mit einkochte, was die Frau, die selbst
keinen Garten, dafür aber eine große Familie besaß,
bereitwillig getan hatte.
Als er Fräulein Meinelt
an diesem Morgen ein Glas Pflaumen auf den Schreibtisch stellte, schaute
sie lächelnd hoch.
»Das ist aber nett,
Herr Walther. Die esse ich warm mit Eierkuchen.«
»Klingt gut.« Er
deutete mit dem Kopf auf die Tür. »Ist der Herr Kommissar zu
sprechen?«
»Ja, er erwartet Sie
schon. Ich bringe gleich Kaffee.«
Er klopfte an und trat ein.
Leo blickte von dem Bericht auf, den er gerade las, und deutete auf den
Stuhl gegenüber. Er tippte mit dem Finger auf die Blätter, die
vor ihm lagen. »Du meinst also, Frau Wegner hat nichts mit dem Mord
zu tun.«
Walther wog die Antwort sorgfältig
ab. »Ganz
Weitere Kostenlose Bücher