Tod in Breslau
dem Absatz kehrt und
verschwand. Anwaldt wollte ihm folgen, aber Mock hielt
ihn zurück. Er entnahm dem Kuvert einen maschinenge-
schriebenen Brief und reichte ihn seinem Assistenten.
»Lies du! Ich sehe so schlecht hier, und bevor wir wie-
der in diese verdammte Hitze hinausgehen …« Erst jetzt
wurde sich Mock bewusst, dass er den Sohn von Baron
von der Malten die ganze Zeit über geduzt hatte. (Wenn ich mit Marietta so vertraulichen Umgang hatte, werde ich ihn doch nicht siezen!)
Anwaldt studierte den Brief mit dem goldenen Wap-
pen der Universitätsbibliothek und der eleganten Schrift
des Direktors.
»Sehr geehrter Herr Kriminalrat! Ich bitte vielmals um
Verzeihung, dass ich nicht persönlich zu unserem ver-
einbarten Treffen erscheinen kann, aber familiäre Grün-
de haben mich gezwungen, am gestrigen Abend die Stadt
zu verlassen. Einige Male habe ich versucht, Sie telefo-
nisch zu erreichen, doch waren Sie wohl außer Haus. So
werde ich Ihnen also meine Erkenntnisse brieflich mittei-
len, die von einiger Wichtigkeit sein dürften. Alles, was
ich Ihnen eröffne, stützt sich auf das hervorragende Werk
›Les Yesîdîs‹ von Jean Boyé, das vor zehn Jahren in Paris
erschienen ist. Der Autor, ein anerkannter französischer
Ethnograph und Reisender, hat vier Jahre bei den Yezi-
den gelebt, war dort wohlgelitten und in einer Weise an-
erkannt, die ihm Zutritt zu einigen ihrer heiligen Rituale gewährte. Unter den vielen Beschreibungen der religiösen
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Kulthandlungen dieser geheimnisvollen Sekte findet sich
eine, die besondere Beachtung verdient. So kam es ein-
mal, dass der Autor mit einigen der alten Yeziden in der
Wüste weilte (er schreibt nicht, wo genau). Dort besuch-
ten sie einen hochbetagten Einsiedler, der in einer Grotte hauste. Dieser Greis vollführte des Öfteren kultische Tän-ze, während derer er in eine Trance fiel, ähnlich etwa den türkischen Derwischen. In einen solchen Zustand versetzt, stieß er Prophezeiungen in einer unverständlichen
Sprache aus. Wie Boyé schreibt, hatte er die Yeziden sehr
lange darum bitten müssen, diese prophetischen Ausrufe
zu übersetzen, bis sie sich endlich dazu bereit erklärten.
Ihnen zufolge verkündete der Eremit, dass nun die Zeit
der Rache für die ermordeten Kinder des Al-Shausi ge-
kommen sei. Boyé, ein ausgezeichneter Kenner der Ge-
schichte der Yeziden, wusste, dass diese Kinder etwa um
die Wende zwischen dem sechsten und siebten Jahrhun-
dert nach dem islamischen Kalender zu Tode gekommen
waren. Es wunderte ihn daher, dass die berufenen Rächer
so lange mit der Erfüllung ihrer heiligen Pflicht gewartet hatten. Doch die Yeziden erklärten ihm, dass nach ihrem
Recht eine Rache nur dann gültig sei, wenn sie genau
dem Verbrechen entspreche, das es zu rächen gilt. Wenn
also jemandem mit dem Stilett ein Auge ausgestochen
wurde, dann muss sein Rächer dem Täter oder seinen
Nachfahren genau dasselbe zufügen – der Racheakt darf
also nicht beispielsweise mit einem beliebigen Messer
ausgeführt werden, sondern nur mit einem Stilett – am
besten sogar mit genau derselben Waffe. Auch die Ver-
geltung des Mordes an den Kindern des Al-Shausi ent-
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spräche also nur dann den Gesetzen, wenn die Kinder der
Nachkommen des Mörders auf eben dieselbe Art und
Weise umgebracht würden. Doch jahrhundertelang hatte
dies nicht geschehen können – bis zu dem Zeitpunkt, an
dem der yezidische Einsiedler seine Offenbarung hatte:
Die Gottheit Malak-Taus war ihm erschienen und hatte
verkündet, dass nun die Zeit gekommen sei. Bei den Ye-
ziden genießen die Eremiten großes Ansehen, man be-
trachtet sie als die Hüter der Tradition, und zu dieser heiligen Tradition zählt auch die Pflicht, Vergeltung zu üben.
Wenn also ein Eremit verkündet, die Zeit dafür sei ge-
kommen, wird eine Versammlung einberufen, auf wel-
cher der Rächer bestimmt und auf dessen rechte Hand
das jeweilige Symbol seiner Aufgabe eintätowiert wird.
Wenn er seine Aufgabe nicht erfüllt, wird er vor aller Au-
gen gehenkt. So weit Boyé.
Herr Direktor, auch ich vermag leider nicht die Frage
zu beantworten, die auch Jean Boyé nicht losgelassen hat.
Ich habe die Genealogie der Familie von der Malten lange
studiert und denke, dass ich jetzt weiß, warum die Rache
der Yeziden so viele Jahrhunderte lang nicht vollzogen
werden konnte. Im vierzehnten Jahrhundert nämlich hat
sich der Stammbaum der Familie von der Malten
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